«Gäbe es keine Restriktionen, würde ich meine eigene Buchhandlung eröffnen», sagt Sharlize. «Das ist mein grösster Traum.» Dass dieser bald in Erfüllung geht, ist unwahrscheinlich. Die junge Frau lebt in Afghanistans Hauptstadt Kabul. Seit drei Jahren regieren hier die Taliban.
Schon zuvor plagten Hunger, Krieg und Terror das Land. Seit der Machtübernahme hat sich die Situation aber massiv verschärft. Die Arbeitslosigkeit hat sich gemäss Hilfsorganisationen seit dem Vorjahr verdoppelt. Mehr als die Hälfte der 41 Millionen Afghaninnen und Afghanen sind laut der UNO von Ernährungsunsicherheit betroffen. Extreme Klimaereignisse wie Überflutungen und starke Erdbeben haben neben der humanitären Lage auch die Probleme der Landwirtschaft in den letzten Monaten verschärft.
Am meisten leiden aber Frauen und Mädchen. Dies, obwohl die Taliban anfänglich versprachen, Frauenrechte im Rahmen der Scharia zu respektieren. Diese gilt seit November 2022 offiziell als oberstes Gesetzbuch in Afghanistan. Die Verfassung aus dem Jahr 2004 wurde ausser Kraft gesetzt. Seither wurden Frauen mit einer Reihe von Dekreten und Richtlinien praktisch aus dem öffentlichen Leben verbannt.
Es ist ihnen verboten, sich in öffentlichen Parks, Fitnessstudios und Freizeitparks aufzuhalten. Seit Anfang 2023 gilt ein Verkaufsverbot für Verhütungsmittel. Im Juni desselben Jahres wurden Schönheitssalons geschlossen. Frauen dürfen ausserdem keine weiterführenden Schulen besuchen.
Stattdessen setzen sich zurzeit islamische Schulen durch, an denen islamistisches Gedankengut gelehrt wird. Dazu kommt, dass Frauen nicht ohne einen männlichen Verwandten – einen Mahram – unterwegs sein dürfen. Allgemein ist es Frauen nur in dringenden Fällen erlaubt, das eigene Haus zu verlassen – vorausgesetzt, sie sind vollständig verschleiert.
Vor der Machtübernahme der Taliban gab es in Afghanistans Parlament eine Quotenregel. 27 Prozent der Abgeordneten waren Frauen; 21 Prozent der Strafverteidiger ebenfalls. Heute gibt es keine Frauen mehr in öffentlichen Ämtern. Zusätzlich wurde das Frauenministerium abgeschafft und das Ministerium für die Verbreitung der Tugend und die Verhütung des Lasters – also Sittenwächter – wieder eingeführt.
In der Folge haben Frauen in Afghanistan heute kaum Möglichkeiten zu arbeiten. Seit 2022 dürfen Afghaninnen nicht mehr bei NGOs tätig sein. Ärztinnen dürfen keine männlichen Patienten behandeln oder mit männlichen Kollegen interagieren. Journalistinnen, Richterinnen und Anwältinnen wurden grösstenteils von ihrer Arbeit verbannt.
Auch Sharlize – ihr Name wurde aus Sicherheitsgründen geändert – musste ihren Job nach der Machtübernahme aufgeben. Sie war die Managerin einer Buchhandlung und studierte Buchhaltung. «Ich wollte bald meinen Führerschein machen und ein Auto kaufen. Ich war unabhängig und sehr stolz darauf», sagt sie im Gespräch mit CH Media.
Die Taliban hätten nicht nur ihren Alltag, sondern vor allem auch ihre Denkweise verändert. «Ich würde sagen, der grösste Unterschied zu meinem Leben vor den Taliban ist, dass ich heute keine Hoffnung mehr für morgen habe», sagt Sharlize. Aufgeben wolle sie aber nicht. Schliesslich unterstützt sie mit ihrem Gehalt ihre gesamte Familie finanziell. Heute schreibt sie Online-Inhalte für die Website eines lokalen Unternehmens. «Ich hatte Glück», sagt sie, auch wenn sie ihre Arbeit nur aus dem Homeoffice machen kann.
Auf die Frage, ob sie jemals ihr Land verlassen würde, sagt sie nach einer kurzen Pause: «Das ist kompliziert.» Zum einen könne sie ihre Familie nicht im Stich lassen. Zusätzlich mache ihr der Neuanfang unter den aktuellen Umständen Angst: «Egal, wo ich auf der Welt hingehen würde, ich wäre im Moment ein Flüchtling. Eine Person, die Hilfe von anderen Regierungen benötigt. Das macht es aktuell schwierig für mich, stolz auf meine Herkunft zu sein», so Sharlize.
Eigentlich habe sie immer ins Ausland reisen wollen, um dort ein Unternehmen zu gründen und sich vielleicht in der Politik zu engagieren. Das sei zurzeit kaum möglich. «Sollte ich mein Land jemals verlassen, will ich das als Unternehmerin tun», sagt sie. Holland, Dubai und London stünden ganz oben auf ihrer Wunschliste. Im Moment wisse sie auch nicht, ob sie die Kraft hätte, ihr Leben woanders neu aufzubauen, nachdem sie sich wegen der Machtübernahme der Taliban erst gerade in ihrer Heimat alles neu aufbauen musste.
Zu sehen, dass andere Afghaninnen erfolgreich im Ausland sind, gebe ihr aber Hoffnung. So zum Beispiel die 21-jährige Talash. Die afghanische Breakdancerin, die während der Olympischen Spiele einen Banner auf dem Rücken trug, auf dem «Free Afghan Women» stand. «Die Aktion hat mich motiviert, ich war stolz», sagt Sharlize. Wäre sie an der Stelle der Athletin gewesen, hätte sie wohl dasselbe gemacht, sagt sie.
Afghanistan gilt als eine der «vergessenen Krisen». Aktionen wie diejenige von Talash können dabei helfen, die Situation wieder ins Gedächtnis der Menschen zu bringen. Nicht immer ist Sharlize glücklich mit der Art, wie Ausländer ihr Land zeigen.
«Es gibt zum Beispiel Influencer, die hierherkommen und nur die schönen Seiten des Landes zeigen. Die Landschaften, den Nationalpark in Bamiyan oder die minimalen Zugeständnisse, die die Regierung an Frauen macht.» Die Realität sei aber eine andere. Für die meisten Frauen und viele Männer sei jeder Tag eine Herausforderung. Die wegfallende Bildung wird die Situation für kommende Generationen nochmals erschweren.
Die Hilfsorganisationen, die noch im Land sind und in die Bildung der lokalen Bevölkerung investieren, würden zudem nicht immer den richtigen Fokus setzen, findet Sharlize: «Afghanischen Frauen zu helfen, muss nicht immer heissen, uns Stickerei-Kurse für traditionelle Kleidung anzubieten oder uns Dinge zu geben.»
Die Frauen Afghanistans können grosse Anführerinnen sein, sagt die junge Frau. Sie könnten im Management tätig sein, Unternehmerinnen sein. «Ich will etwas klarstellen: Unsere Frauen sind sehr stark», sagt sie laut in den Hörer. Mit dieser Stärke könnten sie viel erreichen, wenn sie die richtigen Chancen erhalten, ist sie sich sicher.
Sharlize ist neben ihrem regulären Job zurzeit online mit NGOs in Kontakt, gibt und besucht Onlinekurse und versucht, sich ein Netzwerk aufzubauen. «Aktuell ist es mein Ziel, eines Tages für die UNO zu arbeiten. Ich möchte der Regierung beweisen, dass ich jemand bin. Ich will mir einen Namen machen auf dieser Welt», sagt Sharlize.
Das sei es, was ihr seit der Machtübernahme der Taliban am meisten zu schaffen macht: «Ich habe meine Identität verloren. Die Gesellschaft hier hat mich als Frau im Stich gelassen und sie tut es jeden Tag. Früher hatte ich einen Namen, ich war auf dem Weg, jemand zu werden. Ich war eine unabhängige Frau und konnte mir ein Leben aufbauen.» Heute könne sie ihr Gesicht weder auf der Strasse noch in den sozialen Medien zeigen. Egal welchen Kurs sie besucht oder gibt, egal welche Erfolge sie verbucht – sie muss alles für sich behalten. Das sei unglaublich enttäuschend. «Es ist, als würde ich von dieser Welt verschwinden», sagt sie.
Hat sie überhaupt noch Hoffnung für ihr Land? «Meine Hoffnungen sind nicht mehr an das Land geknüpft. Auf dieses kann ich mich nicht mehr verlassen», so Sharlize. Stattdessen stecke sie ihre ganzen Erwartungen in die junge Generation Afghanistans. «Ich hoffe, sie finden einen Weg, sich weiterzubilden und gemeinsam weiterzuentwickeln.»
Allein in diesem Jahr habe sie rund 200 Frauen über Onlinekurse kennengelernt, viele von ihnen sind junge Mütter. «Auch wenn wir uns nicht treffen können, weiss ich also aus erster Hand, dass es viele starke Frauen in Afghanistan gibt, die sich weigern aufzugeben. Das sind gute Nachrichten.» (aargauerzeitung.ch/ear)