Seit die Taliban da sind, verlässt Adele nur noch mit Burka und in Begleitung ihres Mannes das Haus. Die Islamisten haben ihr mit dem Tod gedroht, falls sie anders gekleidet oder alleine unterwegs sei, sagt die 28-Jährige im Videotelefonat.
Adele ist Primarlehrerin in Kabul. Oder besser: Sie war es. Mädchen hat sie unterrichtet, erzählt sie. Bis Taliban-Kämpfer in ihre Schule kamen und alle nach Hause schickten. Die Schule sei nun geschlossen, so deren Ansage. Unter der Herrschaft der Taliban darf sie nicht mehr arbeiten.
«Wir schlafen nicht mehr richtig, essen kaum noch», sagt Adele.
Da sie neben ihrer Tätigkeit als Lehrerin auch politisch auf der Gemeinde engagiert war, ist sie besonders gefährdet.
Adele und ihr Ehemann Nazir wollen nur noch raus aus Afghanistan. Aber wie? Die einzige Möglichkeit wäre der militärische Teil des Flughafens in Kabul. Aber die Wege dorthin sind versperrt, sagt Nazir. Nur mit Visum komme man durch. Der 31-Jährige ist Ingenieur. Genau wie seine Frau musste auch er seine Arbeit auf Geheiss der Taliban aufgeben. Vor einiger Zeit arbeitete er in Herat am Nato-Stützpunkt. Möglicherweise genug, um auf einer entsprechenden Liste der Taliban aufzutauchen.
Die beiden haben die Hauptstadt verlassen und halten sich nun im Kabuler Umland auf. Aus Angst vor den neuen Herrschern. Aber auch, weil Internet-Telefonie in ihrem Stadtbezirk kaum noch möglich sei. «Die Taliban haben einige Sendemasten zerstört», sagt Nazir. Auf dem Land gibt es wenigstens eine unregelmässige Internetverbindung.
«Wir kennen die Taliban noch aus den 90ern», sagt Nahid. Die junge Frau heisst eigentlich anders. Bis die Taliban kamen, arbeitete sie in einem Spital in Kabul, das von der französischen Armee unterhalten wurde, als Krankenschwester. Aus Angst vor den Islamisten will sie ihren richtigen Namen lieber nicht in der Zeitung lesen.
«Sie zwingen die Gemeinden, Listen zu machen von Mädchen und Frauen zwischen 12 und 45 Jahren», berichtet Nahid, deren Cousine in der Schweiz lebt. Jede einzelne auf diesen Listen wird zum potenziellen Opfer einer Zwangsehe mit einem Taliban-Kämpfer. Die Islamisten nehmen sich afghanische Frauen als «Belohnung» für den Kampf.
Nahid gehört zur ethnischen Minderheit der Hazara. Eine Gruppe, die rund zehn Prozent der Bevölkerung Afghanistans ausmacht – und sich bereits rein optisch von der Mehrheit der Paschtunen und der ebenfalls grösseren Gruppe der Tadschiken unterscheidet.
Die Hazara werden in Afghanistan seit langem verfolgt und unterdrückt. Unzählige Übergriffe und Anschläge der Taliban mussten sie über sich ergehen lassen. Dass sich die «neuen Taliban» geändert hätten und milder geworden seien, wie dies so mancher westliche Beobachter hofft, glaubt Nahid nicht. «Im Moment erleben wir die Ruhe vor dem Sturm», sagt sie. Den «Wolf im Schafspelz» nennt sie die Taliban-Führer, die nach der Machtergreifung in Kabul den Frauen und den Andersdenkenden grosse Versprechen machten. «Wir leben in ständiger Angst», sagt Nahid.
Nahids grösste Befürchtungen werden durch einen aktuellen Bericht von Amnesty International schon jetzt bestätigt. Im vergangenen Monat seien in der Provinz Ghazni neun Hazara-Männer von den Taliban «massakriert» worden, schreibt die Menschenrechtsorganisation. «Die brutalen Tötungen erinnern an die vergangenen Machenschaften der Taliban und sind ein Beweis dafür, dass ethnische und religiöse Minderheiten unter ihrer neuen Herrschaft weiterhin besonders gefährdet sind», so Amnesty weiter.
Während ihres Siegeszugs durch Afghanistan dürften die Islamisten für unsägliches Leid in der Bevölkerung gesorgt haben. Amnesty spricht von einem «winzigen Bruchteil», die die bekannt gewordenen Morde insgesamt ausmachten. In vielen eroberten Gebieten hätten sie den Handyempfang unterbrochen, schreibt Amnesty weiter – und bestätigt damit Nazirs Schilderungen aus Kabul. Die Taliban kontrollierten so, welche Fotos und Videos aus diesen Regionen an die Öffentlichkeit gelangen.
Die Angst ist allgegenwärtig bei den Menschen in Afghanistan. Viele ziehen sich zurück, trauen sich nicht, über ihre Lage zu sprechen. Den vollen Namen oder gar ein Foto von sich im Internet könnte den Tod bedeuten.
Eine, deren Gesicht international bekannt wurde, ist Zarifa Ghafari. Die 29-Jährige war Stadtpräsidentin des 35'000-Einwohner-Ortes Maidan Shahr im Südwesten von Kabul. Ihr Hilferuf ging um die Welt. Während ihrer Flucht vor den Taliban schreibt sie per SMS:
Sie bitte um Verständnis und darum, abzuwarten.
Ghafari hat es inzwischen geschafft. Gemeinsam mit ihrer Familie ist sie mit einem türkischen Flugzeug in Istanbul angekommen. In Sicherheit.
Adele und Nazir hatten weniger Glück. Sie haben wenig Hoffnung, «aus dieser Dunkelheit» herauszukommen, wie der 31-Jährige sagt. Vom Westen ist er enttäuscht. Die Amerikaner hätten Freiheit und mehr Rechte für Frauen versprochen. Jetzt sind sie einfach weg. Die beiden hoffen auf Hilfe von internationalen Organisationen, von den USA, der Schweiz – von irgendwem.
Nahid, die Krankenschwester, hatte Pläne, eine Zukunft. Keine Woche ist das her. Heute ist sie verzweifelt. «Sämtliche Träume, die ich hatte, sind zerstört», sagt sie. Nun hofft sie auf die Franzosen, für die sie im Spital gearbeitet hatte. Zusammen mit anderen ist sie vor ein paar Tagen zur französischen Botschaft gegangen, um Hilfe zu suchen. Taliban-Kämpfer vertrieben die Gruppe vor dem Gebäude. Ein Mann sei ausgepeitscht worden, sagt Nahid. Sie rannte. Ob sie jemals wieder das Land verlassen kann, weiss sie nicht.