Die raschen Gebietsgewinne der militant-islamistischen Taliban in Afghanistan sind einem Experten zufolge darauf zurückzuführen, dass der Abzug der internationalen Truppen schlecht vorbereitet worden ist. Der Zusammenbruch derart vieler Positionen der Sicherheitskräfte - seit Anfang Mai sind mehr als 70 der rund 400 Bezirke neu an die Taliban gefallen - offenbare Missmanagement auf höchster Ebene der afghanischen Regierung, sagte der Afghanistan-Experte Andrew Watkins von der Denkfabrik International Crisis Group (ICG) auf Anfrage.
Seit Beginn des Abzugs der US- und anderer Nato-Truppen aus Afghanistan mit 1. Mai haben die Taliban mehrere Offensiven gestartet. Vor dem Hintergrund des laufenden Rückzugs wollte US-Präsident Joe Biden am Freitag den afghanischen Präsidenten Aschraf Ghani im Weissen Haus empfangen. Der Besuch soll nach Angaben Washingtons die Partnerschaft zwischen den beiden Ländern unterstreichen, während der militärische Abzug läuft. Auch in den USA wurden zuletzt Sorgen wegen der militärischen Fortschritte der Taliban laut.
Experte Watkins sagte, die Taktik der Taliban seit Abzugsbeginn unterscheide sich nicht dramatisch von den vergangenen Jahren. Die Aktivitäten der Islamisten hätten daher nicht überraschen sollen.
Gleichzeitig hätten die Taliban in den vergangenen Wochen vor allem auf «tief hängende Früchte» abgezielt - jene Bezirke, in denen sie bereits den Grossteil der Dörfer kontrollierten und die Regierung nur noch das Bezirkszentrum mit wenigen Gebäuden hielt. «Die Taliban werden mit ziemlicher Sicherheit das aktuelle Tempo nicht halten können, auch wenn sie weiter militärisch erfolgreich sind.»
Einen Kollaps der Sicherheitskräfte sieht Watkins nicht bevorstehen. Ihre Kapitulationen und Rückzüge in den vergangenen Wochen hingen damit zusammen, dass viele Kräfte unter unhaltbaren Bedingungen zurückgelassen worden seien. Es gebe nicht viele Hinweise darauf, dass die Sicherheitskräfte grössere Posten verlassen würden, wo Nachschub und Luftunterstützung gesichert seien.
Die Taliban hätten sich mehreren Provinzhauptstädten weiter genähert und seien teils in diese auch vorgedrungen, aber auch das sei nichts Neues. Bisher hätten die Regierungskräfte dort dagegengehalten und die Einsätze der Taliban seien von kurzer Dauer gewesen. (aeg/sda/dpa)