Kabul ist gefallen. Zwanzig Jahre nach ihrem Sturz sind die Taliban in die Machtzentren Afghanistans eingezogen. Steinigungen, Folterungen, Vergewaltigungen: Trotz anderslautenden Beteuerungen dürften sie bald ihre altbekannte Schreckensherrschaft ausüben. Das befürchten auch viele Expertinnen und Experten.
«Erste Taliban-Führer bekennen sich bereits wieder zur Scharia. Dann geht es nach 20 Jahren Modernisierung wieder 200 Jahre rückwärts. Und wir wissen aus der Vergangenheit, wie die Taliban mit Frauen und Mädchen umgegangen sind», sagt Alexandra Karle, Chefin der Schweizer Sektion von Amnesty International, zu watson. Die ersten Opfer des Umsturzes seien die Frauen und die Grundrechte der Bevölkerung.
Den Unkenrufen zum Trotz: In den letzten zwei Jahrzehnten hat sich das Land nach dem Ende des Taliban-Regimes modernisiert. Diese Fortschritte sind nun Makulatur. Die wichtigsten Punkte:
Der Siegeszug der Taliban trifft die Frauen ins Mark.
Eine Studentin der «American University of Kabul» beschreibt in einem emotionalen Aufsatz die letzten Momente, die sie am Sonntag an ihrer Uni verbrachte. «Ich verliess mein Pult mit Tränen in den Augen und verabschiedete mich von meinen Kolleginnen. Ich wusste, dass dies mein letzter Tag an der Uni war. Nun fürchte ich um mein Leben. »
Zwei Jahrzehnte kämpften die Frauen in Afghanistan für ihre Rechte. Teils mit Erfolg. «Frauen konnten sich unbehelligt in Cafés treffen. Konnten sich in manchen Teilen des Landes sogar kleiden, wie sie wollten», so Karle, die früher als Journalistin mehrmals durch Afghanistan reiste und bis heute Kontakte ins Land pflegt.
Nun ziehen die Taliban wieder ihr Steinzeit-Regime auf. Im Beitrag im britischen «Guardian» beschreibt die Studentin weiter, wie sich ihr früheres Leben gerade in Luft auflöst:
In einer ersten Ankündigung haben die Taliban zwar gesagt, dass Frauen weiter Zugang zu Bildung haben dürfen. Dem ist aber offenbar nicht so. In der Stadt Herat wurden Studentinnen vertrieben, die am Montag die Universität besuchen wollten. Die Uni war ein Sinnbild für den Fortschritt im afghanischen Bildungssystem. Denn über 60 Prozent der Studierenden waren weiblich.
In den letzten Jahren sind in Afghanistan zahlreiche TV-Stationen und Online-Medien gegründet worden. An vorderster Front mit dabei waren auch die Frauen. Wie bei ASR News moderierten viele Frauen durch Sendungen. Zahllose Journalistinnen versuchten mit grossem Einsatz, den Frauen in den Medien eine Stimme zu geben.
Damit ist nun Schluss. «Wir fürchten uns zu Tode und müssen nun unsere Spuren verwischen, damit uns die Taliban nicht aufspüren», so eine Journalistin zum «Guardian». Und die Angst scheint alles andere als unbegründet zu sein: Laut Medienberichten ist die afghanische Journalistin Getee Azami bereits verhaftet worden.
Seit der Machtübernahme der Taliban können die Medien in Afghanistan nur noch sehr eingeschränkt berichten. Die beliebten Fernsehkanäle ToloNews oder Ariana etwa senden nicht mehr live. Am Sonntag bereits zeigten sie praktisch nur Wiederholungen. Reine Musik-Kanäle sind momentan in Kabul Bewohnern der Stadt zufolge nicht mehr zu empfangen. Auch Programme mit Frauen werden nur eingeschränkt gezeigt.
Kino, Theater, Konzerte: Insbesondere in Kabul hat sich in den letzten Jahren eine lebhafte Kulturszene entwickelt. Damit dürfte bald Schluss sein. Denn unter den Taliban ist sogar Musik verboten.
Mit einem Riesenaufwand wurde in den letzten Jahren versucht, einen Rechtsstaat in Afghanistan aufzubauen; das Prinzip also, dass staatliche Macht und Gerichtsbarkeit nur auf Grundlage der Verfassung ausgeübt werden kann.
Staatsbeamte wurden geschult, einen funktionierenden Apparat aufzubauen. Trotz grassierender Korruption ging es Schritt für Schritt vorwärts. «Einen funktionierenden Rechtsstaat aufzubauen dauert jedoch länger als 20 Jahre. Nun stehen wir vor einem Scherbenhaufen», so die Amnesty-Chefin weiter. Rechtsstaatlichkeit sei keine Idee der USA oder Europa, sondern werde in UN-Resolutionen festgehalten.
Ebenso in Trümmern liegen die demokratischen Strukturen. Die letzten Parlamentswahlen fanden 2018 statt. Bei der Präsidentschaftswahl 2019 registrierten sich fast zehn Millionen Bürgerinnen und Bürger und kürten mit 50,64 Prozent Ashraf Ghani erneut zum Präsidenten. Dieser flüchtete am Sonntag ins Exil nach Tadschikistan oder Usbekistan.
Selbst in Afghanistan besitzen viele Leute ein Mobiltelefon und können sich dementsprechend über soziale Medien informieren und per Telefon und Messenger auch mit dem Ausland kommunizieren. Dies ist einer der grossen Unterschiede im Vergleich zur Taliban-Herrschaft Ende der 1990er-Jahre. Die Frage ist nur, wie lange dies noch möglich ist. «Wenn die Taliban die Herrschaft über die Infrastruktur erlangen, könnten sie das Handynetz zumindest vorübergehend abschalten. Wie dies schon viele Regimes zuvor getan haben – zuletzt in Burma», führt Karle aus.
Für die progressiven Afghaninnen und Afghanen ist die Machtübernahme der Taliban eine Katastrophe. «So viele mutige Menschen haben für ein weltoffenes Afghanistan gekämpft. 20 Jahre Hoffnung auf ein besseres Leben geschöpft. Das ist nun vorbei, das trifft mich extrem», sagt Amnesty-Chefin Karle.
Was kann die Schweiz jetzt tun? Nun sei es wichtig, akut bedrohte Menschen sofort aus Afghanistan zu evakuieren. Die Schweiz müsse umgehend humanitäre Visa für afghanische Leute ausstellen, deren Familien in der Schweiz lebten. Zudem müsse man die Nachbarländer mit humanitärer Hilfe unterstützen, damit diese die sich abzeichnenden Flüchtlingsströme bewältigen können.