Wind und Regen, verschlackte Sanddünen und sechs Atommeiler: Gravelines an der französischen Seite des Ärmelkanals ist wirklich kein Touristenmagnet. Der seit dem Mittelalter befestigte Küstenort liegt zwischen zwei bekannteren Nachbarn – im Osten Dünkirchen, Brennpunkt des Zweiten Weltkrieges, im Westen Calais, Fährhafen und Anlaufstelle für Migranten mit Endziel England.
Aber jetzt erhält Gravelines «ein schönes Projekt». Das sagt der Chefplaner von Electricité de France (EDF), Antoine Ménager, an diesem natürlich verregneten Informationsabend im renovierten Saal der hiesigen Festung, die Militäringenieur Vauban im 17. Jahrhundert ausgebaut hatte.
Das Projekt besteht aus zwei neuen Druckwasserreaktoren (EPR), die zwischen 2026 und 2038 neben dem Hafenareal entstehen sollen. Ihre Leistung von je 1600 Megawatt würde zusammen mit den je 900 Megawatt der bestehenden Meiler eine Nuklearanlage von insgesamt 8600 Megawatt schaffen. «Die grösste der Welt», freut sich Ménager vor 300 Zuhörern, und er verhehlt nicht seinen «Stolz» darüber.
Der Informationsanlass ist der erste von einer ganzen Reihe, die bis im Januar in Nordfrankreich, einmal sogar im nahen Belgien angesagt sind. Organisiert werden sie von der Nationalen Kommission für die öffentliche Debatte (CNDP), einer vom Staat geschaffenen, nach eigener Darstellung aber «unabhängigen» Instanz der französischen Demokratie.
Kernkraft ist für die CNDP ein Musterthema: Sie ist von der Staatsspitze beschlossen – ihr Ursprung geht auf Charles de Gaulle zurück -, aber sie soll auch die lokale Bevölkerung einbeziehen.
Nur, was ist mit «einbeziehen» gemeint? Eine Frau, die sich als Mitglied der grünen Partei EELV outet, bezeichnet das Vorgehen als undemokratisch und fragt, ob eine solche Debatte überhaupt schon einmal etwas an der Behördenabsicht geändert habe. Ja, in 60 Prozent der Fälle seien die jeweiligen Projekte in der Folge angepasst worden, sagt der CNDP-Vertreter sehr präzis. Das betreffe aber meist nur «Begleitmassnahmen», wirft die Fragestellerin ein. Die Atomkraft erfordere zuerst eine Grundsatzdebatte, die, wenn sie ernst gemeint sei, auch die Möglichkeit eines «Nein, danke» einschliesse.
Immerhin, an dem Podiumsgespräch sind die AKW-Gegner gut vertreten. Und Yves Marignac von der Vereinigung Négawatt wird gleich sehr grundsätzlich: Er zitiert Studien, laut denen es möglich sei, in Frankreich genug Energie zu sparen, um sich zu «100 Prozent» auf erneuerbare Energien beschränken zu können. Diese seien billiger und auch schneller, denn die neuen EPR würden in Gravelines kaum vor 2040 ans Netz gehen.
Der erste EPR Frankreichs ist in Flamanville (Normandie) eben erst angeschaltet worden – mit zwölfjähriger Verspätung und vervierfachten Mehrkosten von 13,2 Milliarden Euro. Ein bauliches Fiasko.
EDF-Vertreter Ménager erklärt dies damit, dass die französischen Atomingenieure seit über zwanzig Jahren kein AKW mehr gebaut hätten, was den Bau von Flamanville erschwert habe. «Wir haben dazugelernt», fügt der Stromingenieur an. Laut seinen Studien gibt es «keine glaubwürdige europäische Alternative» zu den EPR. Das schliesse den Ausbau der Erneuerbaren nicht aus: Vor den Küsten Gravelines plant die EDF auch einen Windpark.
Doch mit 600 Megawatt werde er nicht einmal 10 Prozent der Atomanlage beisteuern, hält Nicolas Fournier vom Ökoverein «Les Amis de la Terre» dagegen. Indem sich Frankreich auf die Kernkraft konzentriere, vernachlässige es die Sonnen- und Windenergie. Ausserdem werde Gravelines Berge von Atommüll produzieren; das Endlager in Bure (Lothringen) sei aber noch umstritten.
Der Gesprächsleiter bemüht sich, auch die kritischsten Publikumsfragen aufzunehmen – vielleicht auch, weil die Bevölkerung, ja die Nation nie über den Bau der EPR von Gravelines abstimmen wird.
An diesem Abend entsteht jedenfalls nicht der in Europa vorherrschende Eindruck, die Franzosen seien allesamt pro «nucléaire». Eine pensionierte Ärztin räumt ein, dass die um die bestehenden Reaktoren gemessene Radioaktivität unter den Grenzwerten liege – «doch wer legt in Frankreich die Grenzwerte fest, wenn nicht EDF?»
Ein besorgter Bürger will wissen, ob der Meeranstoss der insgesamt acht Reaktoren durch das Unglück von Fukushima nicht in Frage gestellt werde. Projektleiter Ménager beschwichtigt: Die zu Kühlzwecken am Meerufer platzierte Anlage werde wegen der Erfahrung in Fukushima auf 11 Meter Höhe gebaut, was jeden Tsunami brechen soll. Die Reaktordeckel – in Gravelines gibt es keine Kühltürme – seien genug stark, um den «Absturz eines grossen Zivilflugzeuges auszuhalten».
Nicolas Fournier von den «Freunden der Erde» stellt zudem in Abrede, dass die Kernkraft Frankreichs «energetische Unabhängigkeit» gewährleiste. Am Vorabend habe er in Dünkirchen selbst mitverfolgt, wie ein russisches Schiff angereichertes Uran ausgeladen habe. Und das trotz des Krieges in der Ukraine.
Das sind viele Fragen für Ménager. Der EDF-Mann erhält denn auch zehn Minuten Sprechzeit, gegenüber vier Minuten für die Podiumsvertreter. Seine erste Antwort wirkt nicht sehr überzeugend: Frankreich führe zwar Uran ein, stelle den Strom daraus aber allein, also in «nationaler Souveränität» her.
Die Kernkraft wäre ohne staatliche Subventionen nicht wettbewerbsfähig, führt Fournier weiter an. EDF rechne auch den jahrzehntelangen Abbau ausrangierter Kernkraftwerke nicht in die Finanzrechnung ein. Nicht ohne Grund beteiligten sich keine Privatfirmen an den EPR. Nur die in Staatsbesitz befindliche, hoch verschuldete EDF stürze sich in dieses Finanzabenteuer.
Mit fortlaufendem Abend verstärkt sich noch der Eindruck: Diese öffentliche Debatte dient vor allem dazu, dass die EPR-Gegner Dampf ablassen können. Mehr nicht: Mitbestimmung ist in Frankreich nicht vorgesehen.
Aber vielleicht ist das kritische Publikum in Gravelines auch nicht repräsentativ. Laut mehreren nach Beginn des Ukraine-Krieges erstellten Umfragen bleiben die Franzosen mehrheitlich für die Atomkraft eingestellt. Neu ist, dass sie auch mehr Erneuerbare wünschen. Und zwar in einem noch höheren Ausmass als die Atomkraft. (aargauerzeitung.ch)
Und die SVP so: "EE ist nur wettbewerbsfähig, weil sie subventioniert wird".