In seiner wirren Rede vom Montag legte Wladimir Putin seine Karten offen auf den Tisch: Nein, die Ukraine sei kein souveräner Staat, genauso wenig wie die anderen Länder, die sich nach dem Zerfall der UdSSR als selbständig erklärt haben. Und ja, das sei weit mehr als Machtpolitik. Diese Länder seien mit Russland nämlich «mit Blut und Familienbanden verbunden».
Putin gilt zwar gemeinhin als kühler Pragmatiker und skrupelloser Taktiker. Er hat jedoch auch eine ideologisch-romantische Seite. So vertritt er eine Sicht der Welt, die als Eurasianismus bezeichnet wird. Was heisst das?
Die Ursprünge des Eurasianismus hat der Linguist Nikolay Trubetskoy vor rund 100 Jahren gelegt. Er vertrat die These, wonach eine Kultur wie eine Sprache eine Art unbewusste DNA besitzt. Eurasien war für ihn ein gigantisches Becken, in dem Systeme von miteinander verbundenen Sprachen, respektive Kulturen zusammenfliessen und eine gemeinsame Struktur bilden. Gemäss dieser Logik ist Eurasien mehr als ein geografischer Raum. Es ist auch eine Kultur, die einer natürlichen, unbewussten, inneren Logik folgt.
Der Historiker Lev Gumilev hat Trubetskoys These aufgegriffen und weiterentwickelt. Der Sohn der russischen Dichterin Anna Akhmatova wurde zwar von Stalin zweimal in ein Gulag verbannt. Trotzdem blieb er ein glühender Nationalist. Er fügte der gemeinsamen eurasischen Kultur ein Attribut hinzu, dass er Passionarost nennt. Darunter versteht er die Fähigkeit eines Einzelnen, sich zugunsten eines grösseren Ideals zu opfern und so den Verlauf der Geschichte zu beeinflussen. Diese Eigenschaft ist gemäss Gumilev typisch für den Eurasianismus und unterscheidet die Russen von den Westeuropäern.
Alexander Dugin schliesslich fügte der These des Eurasianismus eine geopolitische Komponente hinzu. Der russische Intellektuelle beruft sich dabei auf den schottischen Geografen Halford Mackinder. Dieser hatte schon zu Beginn des letzten Jahrhunderts die Welt in zwei Supermächte aufgeteilt: in eine Land- und eine Seemacht. Die Weltmeere werden dabei von den Angelsachsen beherrscht – «Britannia rules the waves» lässt grüssen. Russland kann sich daher als Grossmacht nur zulande behaupten.
Dugin ist eine irre Mischung aus Faschist – als junger Mann pflegte er in einer SS-Uniform herumzustolzieren –, Nationalist und Mystiker. In seinem wichtigsten Buch «The Foundation of Geopolitics» stützt er sich auf die Theorie von Mackinder. Die USA haben zwar mittlerweile Grossbritannien als führende Seemacht abgelöst, doch das geopolitische Kräftespiel ist gemäss Dugin unverändert geblieben. Russland muss daher alles daran setzen, die führende Landmacht zu werden, um so den angelsächsischen Seemächten die Stirn bieten zu können. Idealerweise holt man sich dabei noch Deutschland und Japan ins Boot.
Zunächst muss Russland wieder die Kontrolle über die Staaten erhalten, die sich nach dem Zerfall der Sowjetunion selbstständig gemacht haben. Genau dies ist auch der Plan der ehemaligen Oberen des Geheimdienstes KGB. Catherine Belton zeigt in ihrem kürzlich erschienen Buch «Putins Netz» auf, dass diese Siloviki inzwischen die Macht an sich gerissen haben und nun eine Sowjetunion ohne Kommunismus anstreben.
In bester leninistischer Tradition wollen sie dabei den Westen mit seinen eigenen Waffen schlagen. «Teile des KGBs, unter ihnen Putin, benutzen den Kapitalismus als Werkzeug, um es dem Westen heimzuzahlen», stellt Belton fest. (Belton ist im Übrigen der Meinung, Putin sei alles andere als allmächtig, sondern mittlerweile eine Marionette der Siloviki. Aber das ist eine andere Geschichte.)
Die Ukraine ist ein zentraler Baustein beim Aufbau eines Eurasianismus. «Um wirklich auftrumpfen zu können, braucht der Kreml die Ukraine und eine Einflusssphäre im Westen», stellt deshalb «NZZ»-Chef Eric Gujer fest. «Denn eine starke europäische Macht ist Russland seit dem Zerfall der Sowjetunion nicht mehr.»
Um sich sein Nachbarland untertan zu machen, muss Putin allerdings ein gerütteltes Mass an Geschichtsklitterung betreiben. So behauptet er nun, die Ukraine sei niemals ein souveräner Staat, sondern stets mit Russland vereint gewesen. Lenin habe lediglich auf fahrlässige Art und Weise dieser Provinz ein hohes Mass an Eigenständigkeit eingeräumt, mehr nicht.
Kiew ist tatsächlich die Geburtsstätte der russischen Kultur, doch das war im tiefsten Mittelalter. Dazwischen liegen Jahrhunderte, in denen das Verhältnis zwischen Kiew und Moskau alles andere als harmonisch war. Die Ukraine ist auch bevölkerungsmässig gemischt. Teile des Westens gehörten einst zu Österreich-Ungarn. Lwiw zum Beispiel hiess einst Lemberg und war von einem breiten Mix von Menschen bevölkert.
Schliesslich hat die Ukraine eine äusserst tragische Geschichte. In der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts hat kein Land mehr Leid ertragen müssen. Nach der Oktoberrevolution wurden die Städte abwechslungsweise von der roten und der weissen Armeen erobert und geplündert. In den Dreissigerjahren liess Stalin im Holodomor mehr als fünf Millionen Menschen verhungern, bis Hitler schliesslich ein scheussliches Gemetzel an der Bevölkerung anrichten liess.
Putin hat nun die beiden von russischen Separatisten beherrschten Gebiete von Donezk und Luhansk als selbstständige Republiken anerkannt. Mehr als ein erster Schritt kann dies nicht gewesen sein. Der Donbass ist alles andere als eine attraktive Braut. Es handelt sich vielmehr um ein ehemaliges Stahl- und Kohlengebiet, das heute eine überalterte, arme Bevölkerung und sonst wenig zu bieten hat.
Die beiden Politologen Michael Kimmage und Michael Koeman haben daher im Magazin «Foreign Affairs» schon vor Monaten festgestellt: «Die russische Führung geht nicht davon aus, dass die Anwendung von Gewalt ein Kinderspiel und ohne Kosten sein werde – aber für sie befindet sich die Ukraine auf einem für sie nicht akzeptablen Weg, und sie haben kaum Möglichkeiten, dies mit den bestehenden Mitteln zu ändern. Deshalb könnten sie zum Schluss gekommen sein, dass eine militärische Operation jetzt weniger kostspielig ist als eine in der Zukunft.»