Gideon Rachman ist der Experte für Geopolitik bei der «Financial Times». In seiner jüngsten Kolumne stellte er das gängige Putin-Bild auf den Kopf. Er schreibt:
Aber stimmt das auch wirklich? Oder ist alles ganz anders? Vielleicht sei Putin «Vlad the Mad», Putin der Verrückte, spekuliert Rachman. Diese These ist keineswegs abwegig, wie es zunächst erscheinen mag. Das sind die Gründe, die für die Vlad-the-Mad-These sprechen:
Putin selbst ist zwar kein Vordenker. Er beruft sich jedoch gerne auf Thesen von Intellektuellen, die ein alles andere als rationales Gedankengut verbreiten.
Einer davon ist Iwan Iljin, ein russischer Philosoph und Schriftsteller, der nach der Machtübernahme der Bolschewisten in den Westen fliehen musste. Iljin lebte zunächst in Berlin und hatte grosse Sympathien für die Nazis. Im Krieg kam er in die Schweiz und starb schliesslich 1954 in Zollikon. Ein halbes Jahrhundert später liess Putin seine sterblichen Reste nach Moskau überführen. In seinen Büchern vertrat Iljin Thesen, die man als mystischen Nationalismus umschreiben könnte.
Der Historiker Lew Gumiljow wird ebenfalls von Putin verehrt. Der Sohn der bekannten russischen Dichterin Anna Achmatowa wurde zwar von Stalin zweimal in einen Gulag verbannt. Trotzdem entwickelte er die These einer russisch-slawischen Identität, die allen andern überlegen sein soll.
Schliesslich taucht im Umfeld von Putin immer wieder mal Alexander Dugin auf. Dieser ist eine feste Grösse des internationalen Faschismus und verehrt Alain de Benoît, einen französischen Vordenker der neuen Rechten. Dugin ist ebenfalls ein extremer Nationalist und Vertreter der Idee einer russischen Grossmacht.
So gesehen ist es nicht verwunderlich, dass Putin selbst vor rund zwei Jahren ein längeres Essay verfasst hat, in dem er die mehr als fragwürdige Theorie aufstellt, wonach die Briten und Franzosen Hitler zum Überfall auf die Sowjetunion aufgefordert hätten. Letzten Sommer stellte der russische Präsident die Behauptung auf, wonach die Ukraine gar keine eigene Nation und historisch ein Teil von Russland sei.
«Macht korrumpiert, und absolute Macht korrumpiert absolut.» Dieses legendäre Bonmot des britischen Historikers Lord Acton dürfte auch auf Putin zutreffen. Seine Macht ist absolut und angeblich soll er sich nur noch mit ihm ergebenen Ja-Sagern umgeben.
Der französische Präsident Emmanuel Macron, der soeben mehr als fünf Stunden mit Putin verhandelt hat, erklärte auf seiner Rückreise, der russische Präsident sei in einer «revisionistischen» Logik gefangen. Aus Macrons Umfeld war zu vernehmen, Putin sei dogmatisch und rigid geworden, im Kreml herrsche eine «Bunkermentalität».
Ebenfalls gegen die Putin-der-Rationale-These spricht die Tatsache, dass er sich möglicherweise verzockt hat. Sein Kalkül, mit einem Truppenaufmarsch an der Grenze zur Ukraine die Nato zu spalten, ist nicht aufgegangen. Ebenfalls in der «Financial Times» stellt Edward Luce fest: «Russland hat erreicht, was es fürchtet – einen Westen, der so etwas wie Entschlossenheit demonstriert.»
Russlands Aggressionen haben die Nato wieder zu ihren Wurzeln zurückgeführt. Das Militärbündnis wurde einst geschlossen, um die sowjetische Gefahr zu bannen. Auch gegen Putin schliessen sich die Reihen. Selbst die zögerlichen Deutschen machen nun mit.
Die neue Einheit des Westens birgt jedoch neue Gefahren. «Der Westen versteht nicht, wie sehr es für uns um Leben und Tod geht», warnt Ruslan Pukhow, ein hoher russischer Militärexperte in der «New York Times». «Ein Eintritt der Ukraine in die Nato ist für uns gleichbedeutend mit einem Atomkrieg.»
Dmitri Kiselyow, ein führender russischer TV-Moderator, sprach am vergangenen Sonntag gar offen von einem solchen Nuklearkrieg, einem Krieg, in dem beide, Russland und der Westen, vollständig vernichtet würden. «Vergessen wir nicht, Russland braucht keine Welt ohne Russland», so Kiselyow. «Das bedeutet, nicht nur Amerika, sondern auch Europa werden im Falle eines Atomkriegs in Schutt und Asche gelegt.»
Angesichts dieser Töne ist es wenig wahrscheinlich, dass es bald zu einer raschen Lösung in der Ukraine-Frage kommen wird. Professor Andrei Sushentsow, Politologe an der Universität in Moskau, ist überzeugt, dass sich dieser Konflikt noch lange hinziehen wird, und dass der Westen sich auf die russischen Forderungen einlassen muss.
«Es ist wichtig, dass diese Stimmung eines drohenden Krieges aufrechterhalten wird», erklärt er gegenüber der «New York Times». «Die Menschen sind von der langen Phase des Friedens verweichlicht worden. Sie nehmen die Sicherheit als gegeben an.»
Angesichts solcher Worte ist es nicht wirklich tröstlich, dass Putin angekündigt hat, er plane in den kommenden Wochen Manöver mit modernsten Nuklearwaffen.
Man muss nur mal die russischen Kommentare unter dem Video zur Konferenz lesen, um zu verstehen, wie tief dieser Ausspruch die russische Seele verletzte.
Seither probiert Putin alles, um sein internationales Gewicht zu zeigen, notfalls auch durch Erpressung und Drohung.
Diese Aussage ist für Putin vermutlich sehr zutreffend. Spätestens seit seiner Wiederwahl 2012 spielt die Macht die zentrale Rolle in seinem Denken und Handeln. Machterhalt, Machtausübung, Machtausweitung.
Um die eigenen Reihen zu schliessen setzt er vermehrt auf die alt bekannte Karte des Nationalismus.