Sein Einfluss ist riesig, doch im Westen kennen ihn weiterhin nur wenige: Andrij Jermak ist der wichtigste Vertraute von Präsident Wolodymyr Selenskyj. Im vergangenen Jahr verantwortete Jermak im Auftrag Selenskyjs etwa den Friedensgipfel in der Schweiz.
Der 53-jährige Jurist und Bürochef des ukrainischen Präsidenten wurde von niemandem gewählt. Doch er ist der zweitmächtigste Mann der Ukraine – und seine Rolle im Land äusserst umstritten. Bei den letzten Ereignissen rund um die am Donnerstag wieder zurückgenommene Einschränkung der Antikorruptionsorgane soll er eine grosse Rolle im Hintergrund gespielt haben.
Ein wirklicher Schattenpräsident hinter Selenskyj, wie viele in und ausserhalb der Ukraine behaupten, ist er nicht. Zu oft soll es zwischen dem Präsidenten und seinem engsten Vertrauten zu Meinungsverschiedenheiten gekommen sein. Dann habe Jermak, anders als sein Vorgänger Andrij Bohdan, der zu Beginn der Amtszeit des damals politisch unerfahrenen Selenskyj tatsächlich als eine Art Schattenpräsident agieren wollte, schlicht das gemacht, was sein Vorgesetzter wollte. Dies behaupten zumindest mehrere Quellen aus dem Umfeld des Präsidenten.
Fakt ist allerdings: Jermak hat einen riesigen Einfluss darauf, wer überhaupt Zugang zu Selenskyj hat. Er ist sein faktischer Chefdiplomat und hat viel zu sagen, wenn es um innenpolitische oder um personelle Fragen geht.
Als es in der Ukraine im Juli zu einer grösseren Regierungsrochade kam, war Jermak zwar nur auf den ersten Blick der grosse Gewinner. Denn mit der bisherigen Wirtschaftsministerin Julia Swyrydenko ist seine enge Verbündete zur Ministerpräsidentin aufgestiegen. Gleichzeitig hat er allerdings einige Ministerien verloren, die durch «seine» Männer besetzt waren.
Mehrere ukrainische Medien berichten jedoch übereinstimmend, dass es Jermak war, der Selenskyj dazu überzeugte, die Befugnisse der Behörden wie das Nationale Antikorruptionsbüro (NABU) und die Sonderstaatsanwaltschaft für Korruption (SAP) quasi von heute auf morgen einzuschränken. Grund dafür könnten mögliche Korruptionsermittlungen rund um die Personen sein, die dem Präsidentenbüro und Jermak selbst nahestehen sollen. Dies hat die Kritik gegen den 53-Jährigen aus der ukrainischen Zivilgesellschaft, die ohnehin von Beginn an seine Personalie äusserst kritisch betrachtet, noch einmal deutlich verschärft.
Dass Jermak zu einer solch wichtigen Figur im System Selenskyj aufgestiegen ist, war anfangs nicht abzusehen. Sein Team formierte der ukrainische Präsident, der nicht nur als Schauspieler, sondern auch als Fernsehmanager erfolgreich war, ursprünglich prominent aus Top-Mitarbeitern seiner Produktionsfirma Kwartal 95. Jermak, der neben seiner juristischen Expertise in Sachen Urheberrecht auch einige Filme mitproduzierte, kannte Selenskyj schon aus der Fernsehzeit.
Eine wirklich enge Verbindung gab es zwischen den beiden allerdings nicht. Deswegen war es für viele eine Überraschung, als der Präsident ihn 2019 zunächst als aussenpolitischen Berater ins Team holte. In dieser Rolle war er im Herbst 2019 für den ersten grossen Gefangenenaustausch mit Russland und den sogenannten Separatisten im Donbass zuständig. Dabei holte er unter anderem den renommierten Regisseur Oleh Senzow aus der russischen Haft.
Dieses Ergebnis war wohl ausschlaggebend: Im darauffolgenden Jahr wurde Jermak Chef der Präsidentenkanzlei. In der ukrainischen Verfassung gibt es diesen Posten nicht. Doch weil die Präsidentenpartei Diener des Volkes 2019 die absolute Mehrheit bei der Parlamentswahl holte und sich viel Macht damit automatisch im Präsidentenbüro konzentrierte, ist dieses Amt de facto beinahe wichtiger als die Position des Ministerpräsidenten.
Als sein Stabschef nennt sich Jermak «Selenskyjs Manager». Das trifft wohl zu: Er wird mit den wichtigsten Aufgaben betraut, vom Friedensgipfel über die Rückführung der entführten ukrainischen Kinder bis zum Ausbau der Beziehungen mit den USA.
Gerade im letzteren Bereich soll es allerdings mehrere Probleme geben. Auch europäische Diplomaten dürften mit der aussenpolitischen Führungsrolle Jermaks, der kaum charismatisch und dessen Englisch mangelhaft ist, unzufrieden sein.
Mit dem früheren US-Sicherheitsberater Jake Sullivan aus der Biden-Regierung konnte Jermak dennoch eine fruchtbare Beziehung aufbauen. Mit der aktuellen Regierung von Donald Trump ist ihm dies jedoch nicht gelungen. Sein letzter Besuch in den USA vor einer Woche endete beinahe in einer Katastrophe. Weder Trumps Stabschefin Susie Wiles noch Marco Rubio, als Interimssicherheitsberater eine Art Jermaks Gegenüber, konnten für ihn ausreichend Zeit finden.
Die jüngsten innenpolitischen Spannungen in der Ukraine verstärken den Druck auf Jermak, dem enorme Machtkonzentration sowie fragwürdige Personalpolitik vorgeworfen werden. Unter seinen Stellvertretern finden sich dubiose Figuren, die etwa in der Amtszeit des nach Russland geflohenen Präsidenten Wiktor Janukowytsch prominent im Sicherheitsapparat tätig waren, als dieser mehrfach versuchte, die Maidan-Revolution 2013/2014 gewaltsam aufzulösen.
Auch Jermaks Kommunikationsstil wirft Fragen auf. In den letzten Jahren wuchs ein grösseres Netzwerk an Telegram-Kanälen, die mit dem Präsidentenbüro in Verbindung gebracht werden. Diese beschäftigen sich überwiegend mit der Diskreditierung der politischen Gegner.
Dass Selenskyj Jermak entlässt, ist jedoch kaum vorstellbar. Zu sehr schätzt der ukrainische Präsident seine persönliche Treue. Überdies sind inzwischen zu viele Prozesse, auch in der Aussenpolitik, an ihn persönlich gebunden. Und Jermak ist immer noch jemand, der sich zu Beginn des grossen Krieges nicht nur geweigert hat, zu fliehen, sondern mit Selenskyj seit dem 24. Februar 2022 auch fast 24 Stunden pro Tag im Präsidentenbüro in der Kiewer Bankowa-Strasse verbringt. (aargauerzeitung.ch)