Drei Männer sind zu sehen, mit Sturmhauben auf dem Kopf, sie sitzen in einem kleinen Flugzeug und klatschen sich vor Freude ab. Im Hintergrund hört man die Triebwerke röhren. Die Männer sind Agenten des türkischen Geheimdienstes MIT. Ein weiterer Mann liegt neben ihnen, ihr Gefangener. Die Agenten richten den Mann auf und nehmen seine Augenbinde ab. Die Hände in Handschellen, der Körper mit zwei Gurten festgezurrt – es dauert ein wenig, bis der leicht benommene Mann zu sich kommt. Man sieht seine dunklen Haare, die schwarzen Augenbrauen, den Schnurrbart. Dann blickt er in die Kamera: Abdullah Öcalan, Führer der verbotenen kurdischen Untergrundorganisation PKK. Er wurde gerade von türkischen Agenten in Kenia aufgegriffen. Das Video dieser Festnahme, am 15. Februar 1999, ist bis heute bei YouTube zu finden. Es zeigt einen der wichtigsten Momente der jüngeren türkischen Geschichte.
«Geht es dir gut?», fragt in dem Video einer der MIT-Agenten den PKK-Chef. «Sollen wir dir etwas bringen? Sollen wir dir die Augen mit Wasser abwischen?» Offenbar will der Geheimdienst zeigen, dass der Gefangene nicht misshandelt wurde. Öcalan verzerrt beim Schlucken leicht das Gesicht, ihm ist etwas übel, er braucht noch einen Moment, dann sagt er: «Ich biete meine Dienste an. Ich liebe das türkische und kurdische Volk. Ich werde helfen, wenn ich die Chance dazu bekomme.»
Jener Tag vor zwanzig Jahren hätte die Wende im Kampf des türkischen Staats mit der PKK sein können, die Wende zum Frieden. Die Kurden fühlen sich vom türkischem Staat diskriminiert und nicht als Volksgruppe anerkannt, der Konflikt um ihren Status prägt die Türkei seit Jahrzehnten, manche sagen: eigentlich schon seit der Staatsgründung 1923. Seit 1984 hatte die PKK unter Öcalan für ein unabhängiges Kurdistan gegen den türkischen Staat gekämpft. Der Aussenwelt präsentierten sich ihre Mitglieder damals als Freiheitskämpfer. Doch vor allem in der Türkei ging die PKK mit brutaler Härte vor. Auch Kurden, die dem türkischen Staat näher schienen als der kurdisch-militanten Organisation, wurden von der PKK hingerichtet. Später, nach Autobahnblockaden, Brandanschlägen und Geiselnahmen im Ausland, sollte auch Deutschland sie als Terrororganisation einstufen.
Schon die Details von Öcalans Festnahme 1999 zeigten die internationale und diplomatische Komplexität des Umgangs mit der Untergrundorganisation, die eine Lösung bis heute erschwert. Zunächst hatte Syrien Öcalan zur Flucht aus der libanesischen Bekaa-Ebene gezwungen, wo er lange sein Hauptquartier gehabt hatte. In Griechenland angekommen wollte man den PKK-Chef schleunigst loswerden, um es sich nicht weiter mit dem Nachbar zu verscherzen. Öcalan reiste weiter nach Italien, wurde dort unter Hausarrest gestellt, weil Deutschland einen internationalen Haftbefehl gegen ihn erlassen hatte.
Bald waren im türkischen Fernsehen Bilder von einer Villa am Rande von Rom zu sehen. Öcalan durfte dort seinen Hausarrest verbringen. Die Türkei war erzürnt. Deutschland wurde der Fall zu brisant, weshalb die Bundesregierung wohl auf eine Auslieferung verzichtete. Italien entliess Öcalan daraufhin aus dem Hausarrest, er floh nach Kenia und wurde nach dem Verlassen der griechischen Botschaft schliesslich von MIT-Agenten geschnappt. Seitdem wird Öcalan auf der Gefängnisinsel İmralı gefangen gehalten und ist völlig isoliert.
Das liegt nicht an den 50 Kilometern, die zwischen Istanbul und dem Gefängnis im Marmarameer liegen. Sondern an der türkischen Justiz, die Besuche nur in Ausnahmen zulässt. Öcalans Anwälte sahen ihn zuletzt 2011. Auch Anträge von Familienmitgliedern werden nur selten genehmigt. Zuletzt konnte ihn sein Bruder, Mehmet Öcalan, im Januar 2019 besuchen, davor im Jahr 2016. Es gehe ihm gut, sagte Mehmet Öcalan über seinen Bruder. Seit einigen Jahren soll er sich in Einzel- und Isolationshaft befinden. Da die Türkei die Todesstrafe nicht mehr praktiziert, wurde Öcalan zu lebenslanger Haft verurteilt. Bilder oder Videos von ihm gibt es nicht. Der Staat versucht alles, um Öcalan unsichtbar zu machen.
Aber es ist ihm nicht gelungen. Bei kurdischen Protesten werden Fahne mit dem Gesicht von Öcalan geschwenkt, bei Kongressen politischer PKK-Dachverbände wird der fast 70-Jährige nach wie vor als Held gehuldigt. Öcalan ist zwar offiziell nicht mehr Anführer der militanten Organisation, aber inoffiziell ist er es immer noch. So wie Öcalan nicht wirklich verschwunden ist, so ist auch der Krieg mit seiner Festnahme nicht beendet worden. Die Festnahme Öcalans versetzte der PKK zwar einen Schlag, doch sie ist bis heute aktiv. Mehrere tödliche Terroranschläge hat sie in den vergangenen Jahren in der Türkei verübt. Schätzungsweise 40'000 Menschen sind auf beiden Seiten seit Beginn des Konflikts insgesamt ums Leben gekommen.
Dabei gab es den Versuch eines Friedensprozesses, es gab auch Waffenstillstände. Sie zeigten, wie wichtig Öcalan noch immer ist. Seine Friedensaufrufe, die er etwa durch kurdische Abgeordnete verkünden lies, sorgten mehrmals dafür, dass die Gewalt tatsächlich abnahm, zuletzt und am deutlichsten zwischen 2009 und 2015. Damals glaubten viele, der Frieden könnte dauerhaft sein. Neben Öcalan hatte daran noch ein anderer den grössten Anteil: Recep Tayyip Erdoğan, damals Ministerpräsident, heute Präsident der Türkei. Er hatte den Friedensprozess eingeleitet. Es gab sogar Treffen zwischen dem türkischen Geheimdienst und PKK-Vertretern. Auch mit Öcalan soll es Verhandlungen gegeben haben.
Eine Zeit lang ging der Präsident auf die kurdische Zivilgesellschaft im Osten der Türkei ein und stellte mehr Gerechtigkeit und Wohlstand für sie in Aussicht. Tatsächlich wurde zeitweise viel Geld in die kurdisch geprägten Regionen gepumpt, seit die AKP 2002 die Regierung stellt. Damit gewann er auch Stimmen bei den vielen türkischen Kurden, die nicht mit der PKK sympathisierten.
Nach Jahren des Friedens war die Wende im Sommer 2015 daher umso bitterer. Erdoğan erklärte den Friedensprozess mit der PKK, dessen Einleitung selbst seine Kritiker ihm positiv angerechnet hatten, für gescheitert. Vorausgegangen waren Zwischenfälle wie die Ermordung türkischer Polizisten. PKK-Mitglieder sollen sie durchgeführt haben, weil die Männer mit dem IS kooperiert hätten. Ohnehin warf die PKK damals der Regierung vor, gegen den IS nicht vorzugehen, während die Dschihadisten in Syrien und Irak kurdische Dörfer überfielen. An jenem Sommer hatte Erdoğans AKP bei Parlamentswahlen zwar die meisten Stimmen, aber die absolute Mehrheit verloren. Im Osten des Landes nahmen die Auseinandersetzungen zwischen PKK und Staat zu. Die Guerillas änderten ihre Taktik und rückten in vereinzelte Städte vor, die Regierung antwortete mit Polizisten, Soldaten und Panzern. Ganze Stadtteile wurden verwüstet.
Kritiker unterstellen Erdoğan, er habe den Friedensprozess mit den Kurden bewusst aufgegeben, weil Wähler in Kriegszeiten mit der PKK eine harte Regierung bevorzugen. Sollte es so sein, hat Erdoğan Recht behalten. Die AKP gewann bei Neuwahlen im November die absolute Mehrheit zurück. Das Thema PKK ist inzwischen auch für Berlin ein Problem geworden. Immer wieder beschuldigt Präsident Erdoğan die Bundesregierung, ein «sicherer Anlaufhafen» für die PKK zu sein. AKP-Politiker verweisen auf Veranstaltungen in Deutschland mit Fotos und Flyern, auf denen mit Öcalans Gesicht geworben und die PKK gehuldigt werde.
Die Bundesregierung bemüht sich, verstärkt dagegen vorzugehen. Gerne verweist Berlin auf «Tausende deutsche Verfahren» gegen PKK-Unterstützer. Bei den meisten davon geht es aber um Einzeldelikte wie Vereinsverbote. Gegen hochrangige Funktionäre wurden nur etwa über 100 Verfahren eingeleitet, oft mit Haftstrafen zwischen zwei und vier Jahren. 2017 generierte die Untergrundorganisation hierzulande 14 Millionen Euro. Der Verfassungsschutz resümiert: «Sie ist weiterhin die mitgliederstärkste und schlagkräftigste ausländerextremistische Organisation in Deutschland.»
So ist die Geschichte der PKK auch zwanzig Jahre nach jener Festnahme in Kenia nicht vorbei, nicht in Deutschland und nicht in der Türkei. Und Abdullah Öcalan auf seiner Gefängnisinsel İmralı mischt indirekt noch immer mit: Der 20. Jahrestag seiner Festnahme viel zusammen mit dem 100. Tag eines Hungerstreiks der HDP-Abgeordneten Leyla Güven. Die kurdische Politikerin protestiert so gegen Öcalans Isolationshaft. Am Mittwoch war Güven zwischenzeitlich auf eine Intensivstation gebracht worden. Am Freitag, dem Jahrestag der Festnahme, blockierten Polizisten den Zugang zu ihrem Haus in Diyarbakır und Solidaritätsmärsche von Anhängern.
Dieser Artikel wurde zuerst auf Zeit Online veröffentlicht. Watson hat eventuell Überschriften und Zwischenüberschriften verändert. Hier geht’s zum Original.