Herr Schamberger, die USA ziehen ihre Truppen aus Syrien ab. Was bedeutet dies für die Situation der Kurden im Norden des Landes?
Kerem Schamberger: Zuerst muss betont werden, dass die USA nie in Rojava (siehe Infobox) waren, um die Kurdinnen und Kurden dort zu unterstützen. Sie waren da, um ihre eigenen Interessen zu vertreten. Es ging ihnen laut eigener Aussage um den Kampf gegen den «IS» und darum, den Einfluss des Irans auf das Konfliktgebiet zu verringern. Sie wollten angeblich für Ruhe und Ordnung in Syrien sorgen. Eigentlich ging es ihnen aber primär darum, im Nahen und Mittleren Osten ihre Hegemonie aufrechtzuerhalten.
Aber zeitweise kämpften die USA Seite an Seite mit der kurdischen Verteidigungseinheit YPG.
Ja, aber es war immer klar, dass dies nur ein taktisches Bündnis war. Salih Muslim, der frühere Chef der syrischen Kurdenpartei PYD hat in einem Interview gesagt, dass man die USA nie nach Syrien eingeladen habe und sie deshalb nun auch nicht wegschicken könne. Damit sagen wollte er, dass die USA immer ihre eigenen Interessen vertreten hätten und diese zeitweise deckungsgleich mit jenen der Kurden in Rojava waren. Klar ist allerdings, dass der Abzug der US-Truppen überraschend kommt. Nicht nur für die Kurden, nein, auch für Teile der US-Regierung selbst. Das sieht man auch an der Reaktion von Verteidigungsminister James Mattis, der gestern Abend seinen Rücktritt bekannt gab.
Was wollen die Amerikaner?
Die Strategie der USA ist, sich einerseits der Türkei wieder anzunähern und gleichzeitig das Bündnis zwischen der Türkei und Russland zu schwächen. Diese Woche hat die US-Regierung dem Verkauf von 80 Patriot- und 60 PAC-3-Raketen an die Türkei zugestimmt. Diese sind eine direkte Konkurrenz zum russischen S-400-Raketensystem, das eigentlich ab 2019 in der Türkei aufgebaut werden sollte. Dieser türkisch-russische Deal, der von den USA massiv kritisiert wurde, steht meiner Einschätzung nach nun wieder zur Disposition.
Wie wahrscheinlich ist jetzt ein erneuter Krieg?
Der Abzug der US-Truppen hat die Wahrscheinlichkeit eines weiteren Angriffskriegs von Seiten der Türkei auf Rojava erhöht. Die dortigen Selbstverwaltungsstrukturen haben die Generalmobilmachung ausgerufen. Die Menschen bewaffnen sich derzeit und werden im Verteidigungskampf ausgebildet. Doch noch besteht Hoffnung. Frankreich und Grossbritannien haben zugesichert, weiterhin mit Truppen vor Ort zu bleiben. Dort beteiligen sie sich nach wie vor am Kampf gegen den «IS», zusammen mit dem von den Kurden dominierten Militärbündnis «Syrische Demokratische Kräfte». Klar ist, dass Frankreich dies ebenfalls nicht aus Selbstlosigkeit oder einer politischen Unterstützung der Kurden heraus tut. Auch die Franzosen vertreten dort eigenständige Interessen.
Aber kann die Präsenz der Franzosen und Briten den türkischen Machthaber Recep Tayyip Erdogan von einer erneuten Offensive abhalten?
Das ist ungewiss. Möglich wäre es. Frankreich hat die Weltgemeinschaft öffentlich dazu aufgefordert, den Status der Kurden in Nordsyrien zu schützen.
Wie weit fortgeschritten ist denn derzeit eine Militäroffensive seitens der Türkei?
Die türkische Armee hat Truppeneinheiten bereits vor einigen Wochen an die Grenze zu Syrien beordert. Besonders alarmierend sind Berichte, die besagen, dass sich in der türkischen Grenzstadt Nusaybin derzeit mehrere tausend dschihadistische Kämpfer für einen Angriff auf Rojava bereit machen.
Bereits bei der Militäroffensive auf die kurdische Stadt Afrin vor einem Jahr gab es Bilder, die dschihadistische Kämpfer Seite an Seite mit dem türkischen Militär zeigen sollen.
Dass sich damals dschihadistische Milizen an der Offensive beteiligt haben, gilt heute als Tatsache. Ich gehe davon aus, dass sich an einem kommenden Angriff dieselben Kräfte beteiligen werden wie vor einem Jahr. Alles andere würde mich verwundern. Es ist inzwischen kein Geheimnis mehr, dass die Türkei immer wieder gemeinsame Sache mit dem «IS» und anderen Dschihadisten macht.
Was will Erdogan?
Jegliche Form von kurdischer Selbstbestimmung verhindern. Ihm ist der Status der Kurden im Norden von Syrien ein Dorn im Auge. Und er will verhindern, dass Kurden in der Südosttürkei ein ähnliches Projekt wie jenes in Rojava starten.
In den letzten Wochen häuften sich auch die Berichte von Verhaftungen von kurdischen Aktivisten und Politikern in der Türkei. Räumt Erdogan auch im eigenen Land auf?
Ja, das tut er, wobei aufräumen natürlich ein euphemistischer Begriff ist. Es gibt massenweise Verhaftungen. Im März sind in der Türkei Kommunalwahlen. In kurdischen Gebieten wird dann wieder die kurdische Partei HDP eine Mehrheit gewinnen und die Bürgermeister stellen. Erdogan hat darum eine Hetzkampagne lanciert und eine Verhaftungswelle gegen HDP-Politiker angeordnet. In den letzten Wochen wurden 2000 HDP-Aktivisten und -Politiker festgenommen. Seit 2016 sind es 12'000, die teilweise längerfristig in Haft genommen wurden.
Welche Folgen hätte ein türkischer Angriffskrieg auf Rojava?
Katastrophale. Der «IS» würde gestärkt werden, denn anders als es Donald Trump behauptet, ist er nicht geschlagen. In Syrien wie auch im Irak hat er immer noch einige tausend Kämpfer. Genaue Zahlen gibt es nicht. In den vergangenen Wochen hat der «IS» im Osten von Syrien teilweise erfolgreiche Gegenoffensiven geführt. Das zeigt, dass er noch immer an Kraft besitzt. Eine weitere Folge eines Angriffs wäre, dass hunderttausende Binnenflüchtlinge, die in den letzten Jahren bei den Kurden Schutz gefunden haben, erneut flüchten müssten. Geschweige denn die Kurden selbst.
Auf wen können die Kurden jetzt noch zählen?
Allem voran auf ihre eigene Kraft. Aber klar ist, dass nun Verhandlungen mit dem Assad-Regime verstärkt werden. Es gibt erste Gerüchte, dass das Militärbündnis «Syrische Demokratische Kräfte» Assad Ölquellen in Ostsyrien zurückgeben will. Im Gegenzug sollen syrische Truppen die SDF an der türkischen Grenze unterstützen. Auch ist möglich, dass Russland, das mit Assad kooperiert, den Luftraum nicht freigibt, weil es der Türkei nicht noch weitere Landgewinne in Nordsyrien zugestehen will. Am Boden hätten es die türkischen Truppen viel schwerer, um gegen die sehr erfahrenen kurdischen Kämpfer vorzugehen.
Verspielen sich die Kurden mit einer Annäherung an Assad nicht die Zukunft ihres politischen Projekts in Rojava?
Natürlich ist das riskant. Denn Assad ist natürlich kein Unterstützer von Rojava. Die Frage ist jedoch: Welche Alternative bleibt denn noch? Es gibt unter all den Optionen nur schlechte Optionen. Die Kurden denken hier realpolitisch. Assad ist der Einzige, mit dem sie derzeit noch sprechen können.
Was heisst das für die Menschen in Rojava?
Perspektivisch ist es für sie nicht leicht. Sie haben in den letzten Jahren eine gesellschaftliche Umgestaltung unter einer ständigen Bedrohung zu entwickeln versucht. Das ist extrem schwierig. Einerseits macht sich jetzt bei der Bevölkerung Unruhe breit, weil viele nicht noch einen Krieg wollen. Andererseits wissen sie auch, dass das, was sie in den letzten sechs Jahren aufgebaut haben, nicht so leicht zu besiegen ist. Was sie jetzt brauchen ist internationale Solidarität aus der Bevölkerung, von Parteien oder fortschrittlichen Initiativen. Denn Rojava ist nicht nur das Projekt der Kurdinnen und Kurden, sondern von allen Menschen, die für Gleichberechtigung und Fortschrittlichkeit einstehen.