Was die Ampelkoalition einst als ihre vielleicht grösste gesellschaftspolitische Reform plante, hat nun den Bundestag passiert. Doch das Gesetz über die Cannabislegalisierung, dem die Abgeordneten der Koalitionsfraktionen SPD, Grüne und FDP mehrheitlich am Freitag zustimmten, hat mit dem ursprünglichen Anspruch, Cannabis frei verkäuflich anzubieten, kaum noch etwas zu tun. Über zwei Jahre hinweg wurde das Prestigeprojekt erst aufgeteilt und dann im innerkoalitionären Streit um Grenzwerte und Abstandsregelungen immer kleinteiliger und komplizierter.
Zustande kam das so erheblich geschrumpfte Vorhaben nur gegen den Widerstand von Ärzteverbänden, Polizeivertretern, dem Richterbund, Sozial- und Lehrerverbänden. Auch die Innenministerinnen und Innenminister der Bundesländer sind geschlossen dagegen, im Bundestag verweigerten sogar einzelne Koalitionsabgeordnete ihr Ja. Denn ungeklärt ist die Frage, ob Deutschland hier den richtigen Weg der Entkriminalisierung einer weichen Droge einschlägt oder damit Jugendliche einem gefährlichen Rausch erst ausliefert.
Dabei teilte die Ampel ursprünglich eine gemeinsame Überzeugung: Die bisherige Verbotspolitik in der Cannabisprävention ist gescheitert, trotz polizeilicher Verfolgung und drohender Strafen wird in Deutschlands Parks seit Jahren offen mit Gras gedealt – dreckiges Cannabis, von unklarer Herkunft, mit dem Heranwachsende ihr Hirn schädigen. Ein neuer, liberaler Ansatz sollte daher her: Legalisieren und über die Risiken aufklären.
Als SPD, Grüne und FDP im Herbst 2021 den Koalitionsvertrag aushandelten, einigte man sich auf den Verkauf für den Freizeitkonsum in staatlich lizenzierten Geschäften, ausserdem den legalen Anbau im Cannabisclub oder zu Hause, begleitet von Aufklärung und Evaluation. Doch der Zauber des Anfangs wich schnell der Ernüchterung: So stellte sich heraus, dass staatlich lizenzierte Geschäfte, die Cannabis verkaufen, gegen EU-Recht verstossen. Alternativen mussten gefunden werden.
Und so wurde die ambitioniert gestartete Reform Stück für Stück geschreddert, so wie Cannabis in einem Grinder gemahlen wird für das Bauen des Joints: Um überhaupt etwas vorzeigen zu können, spaltete der dafür zuständige Gesundheitsminister Karl Lauterbach den leichter umsetzbaren Cannabisanbau im privaten Heim oder in Cannabisclubs in einen eigenen Gesetzentwurf ab. Das Gesetz für den kommerziellen Handel versprach der Sozialdemokrat für später.
Zur Ironie des Vorhabens gehört auch, dass Lauterbach die Legalisierung zwar nach aussen hin verteidigte, er selbst den Drogen jedoch längst nicht so freundlich gesinnt war wie die Beteiligten von FDP und Grünen. Lauterbach kämpfte von Anfang an an zwei Fronten: einerseits gegen die Skeptiker, andererseits auch gegen die dezidierten Befürworter des Vorhabens – wie man beispielsweise am Ringen um den legalen Cannabisbesitz sieht.
In ersten Eckpunkten für ein Gesetz hatte Lauterbach im September 2022 eine erlaubte Höchstgrenze von 20 Gramm Privatbesitz vorgesehen. In seinem Folgepapier sieben Monate später waren es schon 25 Gramm. FDP und Grüne im Bundestag drückten den Wert für heimischen Besitz dann auf 50 Gramm hoch – Gras für bis zu 150 Joints.
Straffrei, also entkriminalisiert, bleibt der Besitz sogar bis 60 Gramm – dreimal so viel wie zu Beginn. Auch die Zahl der Cannabispflanzen, die Konsumenten und Konsumentinnen künftig legal daheim aufziehen dürfen, stieg von zwei auf drei. Der Mindestabstand für Kiffende zu Kinder- und Jugendeinrichtungen halbierte sich von 200 auf 100 Meter, schliesslich «auf Sichtweite».
Was die beteiligten Ministerien unter Lauterbachs Federführung an Paragrafen zusammenschrieben, weiteten die cannabisfreundlichen Bundestagsfachpolitiker von FDP und Grünen in ihrem Sinne aus. Um jedes Gramm und jeden Meter wurde erbittert gerungen: Immer wieder mussten in Berlin die Fraktionsspitzen der Ampel zusammentreten, um das Projekt zu retten.
Doch nicht nur im Bundestag, auch bei den Landesregierungen formierte sich Widerstand. Und so wird das Legalisierungsgesetz wohl nicht wie geplant am 1. April in Kraft treten. Denn im Bundesrat überwiegt die Skepsis, selbst bei SPD-geführten Landesregierungen. Wie ZEIT ONLINE erfuhr, rechnen die Ampelfraktionen damit, dass die Länderkammer das Vorhaben in den Vermittlungsausschuss schickt, der den Gesetzentwurf dann taktisch bis in den Herbst verzögern oder gar zur Unkenntlichkeit entstellen könnte. Allein Lauterbachs Krankenhaustransparenzgesetz oder das Wachstumsbeschleunigungsgesetz lagen dort Monate.
Dass das Gesetz so lange brauchte, lag allerdings nicht nur an den internen Widersprüchen, sondern auch an der zugespitzten politischen Grosswetterlage: Putins Überfall auf die Ukraine zwang Deutschland zu einer drastischen Wende der Gasversorgung und der Verteidigungspolitik. Hinzu kam eine Haushaltskrise. In einer solchen Zeit den Weg für berauschenden Genuss freizumachen, wäre in der Öffentlichkeit nicht gut angekommen, äusserten Fraktionsmitglieder. Von Dezember an verschob sich die entscheidende Abstimmung von Woche zu Woche, das Inkrafttreten vom versprochenen Jahreswechsel auf April 2024 – Ausgang offen.
Die Landesregierungen und Interessengruppen aller Richtungen nutzten das, um ihre Kritik am Gesetz und an Lauterbach zu verstärken. «Karl Lauterbach schlägt als Gesundheitsminister ernsthaft die Gründung von Drogenclubs vor», polemisierte etwa Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU). Nicht nur NRW-Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) lehnte die Idee der Cannabismodellregionen ab, kaum dass sie bekannt wurde. Doch auch die eigenen Leute leisteten Widerstand oder hinterfragten die Legalisierung kritisch, darunter sozialdemokratische Ressortchefs, grüne Ministerpräsidenten.
Kritische Interviews mit Lobbyvertretern der Ärzte, Polizisten oder Juristen bestimmten die tägliche Morgenlage in Lauterbachs Ministerium, Gewerkschaften, Wohlfahrts- und Lehrerverbände mobilisierten in offenen Briefen gegen Anbau und Besitz.
Der Jugendschutz komme zu kurz, war eines der zentralen Argumente. Den Konsum von Cannabis schon allen ab 18 Jahren zu erlauben, sei zu früh, beklagten viele der Kritiker – weil Studien zufolge Cannabis bei Heranwachsenden Hirnreife und Gedächtnis beeinträchtigen kann. Lauterbach konnte da noch so oft entgegnen, eine höhere Altersgrenze ergebe keinen Sinn, weil sie alle Jüngeren nur weiterhin zum Schwarzmarkt-Dealer in den Park treibe. Er drang damit nicht durch. Nachgeben musste der Minister am Ende auch bei der wissenschaftlichen Evaluation des Gesetzes: Auf Drängen koalitionsinterner Kritiker wird die nun schon nach spätestens zwei Jahren erfolgen – obwohl es dann deutlich weniger wissenschaftliche Daten geben wird.
Und sogar in der Bundestagsfraktion von Lauterbachs eigener Partei, der SPD, stellten führende Innenpolitiker den Gesetzentwurf ihres Gesundheitsministers am Ende grundlegend infrage. Sie beklagen, Polizisten auf Streife könnten nicht unterscheiden, ob eine Person mit 25 Gramm in der Tasche nun ein Dealer sei oder einfach nur ein Konsument. Und die Justiz gerate in einen «Ausnahmezustand der Überforderung», da wegen der vorgesehenen Amnestie für vergangene Cannabisdelikte die Akten Tausender der Strafverfahren neu bearbeitet werden müssten.
Seitdem gärte es in der SPD-Fraktion. Die Abgeordneten Sebastian Fiedler – von Beruf Polizist – und Sebastian Hartmann forderten in einem ZEIT ONLINE vorliegenden Brief ihre eigene Fraktion auf, das Gesetz abzulehnen. Auch der Chef des Innenausschusses, der SPD-Mann Lars Castellucci, bekundete öffentlich, nicht zustimmen zu wollen – ohne Rücksicht auf den daraus resultierenden politischen Schaden für die SPD, ihren Gesundheitsminister und das Legalisierungsprojekt.
All dieser Ballast hängt dem Cannabisgesetz an, wenn es nach der Bundestagsabstimmung nun in den Bundesrat gelangt. Die Grünenvertreter in der Länderkammer sollen der Bundesebene angeboten haben, auf ein Anrufen des Vermittlungsausschusses zu verzichten, wenn die Koalition das Inkrafttreten der Legalisierung von April auf Oktober verlege – so hätten die etwa für die Kontrollen der Cannabisclubs zuständigen Länder und Kommunen mehr Zeit, die Reform gründlich umzusetzen. Doch Lauterbach soll das abgelehnt haben. Wahrscheinlich ist also, dass das Gesetz ins Vermittlungsverfahren stecken bleibt – über die parlamentarische Sommerpause hinweg bis zum Oktober.
Dieser Artikel wurde zuerst auf Zeit Online veröffentlicht. Watson hat eventuell Überschriften und Zwischenüberschriften verändert. Hier geht’s zum Original.
Früher dachte ich noch, dass ich in einer fortschrittlichen und freiheitsliebenden Gesellschaft lebe, die ziemlich bald erkennt, was für einen Unsinn sie da mit ihren Drogengesetzen treibt, gerade in Bezug auf Cannabis.
15 Jahre später ist mir klar, dass wir im deutschsprachigen Raum nie eine Pionierrolle übernehmen werden und unsere Gesellschaft weder fortschrittlich noch freiheitsliebend ist, nur rückständig und mutlos.