«Ausgerechnet Emmanuel Macron, ausgerechnet Frankreich!» Dies mag wohl die erste Reaktion vieler Menschen gewesen sein, als der französische Präsident kürzlich verkündete, die Europäer müssten «alles unternehmen, damit Russland nicht gewinnt», und dabei auch ausdrücklich miteinbezog, Truppen in die Ukraine zu schicken.
Dabei war es doch Macron, der sich vor Ausbruch des Krieges in der Ukraine schon fast als Putin-Versteher geoutet hatte, der stundenlang am Telefon auf den russischen Präsidenten einsprach, und der gar nach Moskau pilgerte, um sich dort vom Kreml-Boss an einem absurd langen weissen Tisch vorführen zu lassen.
«Typisch Macron, typisch Frankreich», mag daher die zweite Reaktion auf den überraschenden Vorstoss des französischen Präsidenten gewesen sein. Da will sich einer wichtig machen und einmal mehr in der Illusion einer Grande Nation suhlen. Überhaupt die Franzosen: Grosse Töne spucken, aber dann nicht liefern. Sind sie nicht im Verzug mit ihren Versprechen an die Ukraine, und haben die Deutschen trotz Zauderer-Scholz weit mehr geliefert?
Für einmal wird Macron und den Franzosen Unrecht getan. Der französische Präsident trifft den Nagel auf den Kopf, wenn er sagt, «dass in der Ukraine die Sicherheit von Europa und Frankreich auf dem Spiel steht». Und was die Waffen betrifft: Während der deutsche Kanzler Olaf Scholz einen Affentanz um die Lieferung des von der Ukraine dringend benötigten Taurus aufführt, sind französische und britische Cruise Missiles in der Ukraine schon längst im Einsatz.
Macrons Aussage, notfalls auch Bodentruppen in die Ukraine zu schicken, hat Empörung und Dementis in vielen Teilen Europas ausgelöst. Kanzler Scholz widersprach sofort und heftig und verstärkte damit die eh schon schwelende Krise zwischen Berlin und Paris. Der französische Präsident zeigte sich indes unbeeindruckt und legte postwendend eine Schippe drauf, indem er die Forderung nach einem allfälligen Truppeneinsatz wiederholte.
Das zeigt Wirkung: «Trotz des Unbehagens, das Macrons Äusserungen hervorgerufen haben, könnte sich die standhafte Unterstützung Frankreichs für die Ukraine als Game-Changer erweisen», stellt Célia Belin in «Foreign Affairs» fest. Die Politologin arbeitet am European Council on Foreign Relations in Paris.
Es ist auch keineswegs so, dass alle anderen europäischen Staaten sich hinter Scholz gestellt hätten. Auch Macron erhielt Unterstützung, etwa aus den baltischen Staaten. Der polnische Aussenminister Radosław Sikorski erklärte gar: «Ich begrüsse die Initiative von Präsident Macron. Sie führt dazu, dass Putin uns zu fürchten beginnt, und nicht immer nur wir Putin.»
Macron hat erkannt, dass sich Europa nicht mehr länger hinter dem Schutz der Amerikaner verstecken kann und lernen muss, militärisch auf eigenen Füssen zu stehen. Die Erkenntnis kam nicht über Nacht, sondern in Baby-Schritten. Allmählich musste der französische Präsident sich eingestehen, dass Putin rationalen Argumenten nicht mehr zugänglich ist und sich durch nichts und niemanden davon abhalten lässt, seine Träume von einem neuen grossrussischen Reich zu verwirklichen.
Die Kriegsverbrechen der russischen Soldaten in Butscha waren der Wendepunkt. «Die französischen Diplomaten waren nun überzeugt, dass die Annäherung an Russland unproduktiv gewesen war und dass die Zeit zum Umdenken gekommen sei», so Belin. Macron zog die Konsequenzen und forderte schon im Mai 2023, die Ukraine in die EU aufzunehmen. In einer Rede in Bratislava erklärte er: «Die Frage ist nicht, ob wir die EU erweitern sollen, sondern wie wir das tun werden.»
Nicht nur Putins unverhohlener imperialistischer Anspruch hat Macrons Sinneswandel bewirkt. Die Aussicht auf einen möglichen Wahlsieg von Donald Trump hängt ebenfalls wie ein Damoklesschwert über Europa. «Trump kann zwar die EU nicht zerstören, aber er kann auf dramatische Weise die NATO aushöhlen», stellen die beiden Ost-Experten Liana Fix und Michael Kimmage ebenfalls in «Foreign Affairs» fest.
Dazu müsste Trump die USA nicht einmal aus dem Verteidigungsbündnis führen – ein ohnehin chaotischer und aufwendiger Prozess. Trump könnte jederzeit die amerikanischen Truppen aus Europa abziehen. Diese Drohung hat er schon mehrfach geäussert. Angst und Schrecken hat der Ex-Präsident bei den europäischen Militärs mit der Bemerkung ausgelöst, Putin könne mit denjenigen NATO-Mitgliedern, die ihren finanziellen Verpflichtungen nicht nachkommen, tun und lassen, «was immer er zum Teufel auch will.»
Wie die «Washington Post» kürzlich gemeldet hat, soll Trump den Krieg in der Ukraine auch damit beenden wollen, dass er Putin die Krim und den Donbass überlässt. Dass er den russischen Präsidenten damit auch indirekt auffordern würde, sich weiter ehemalige Gebiete der Sowjetunion wieder unter den Nagel zu reissen, kümmert ihn genauso wenig wie das Schicksal der Ukraine. Denkbar wäre etwa ein Einmarsch russischer Truppen in Moldawien.
«Ohne starke amerikanische Unterstützung der NATO würde eine solche Entwicklung Frankreich, Deutschland, das Vereinigte Königreich und andere NATO-Mitglieder in ein schreckliches Dilemma stürzen», so Fix/Kimmage. «Andere Staaten wie etwa Ungarn könnten versucht sein, sich aus Angst mit Russland zu arrangieren, anstatt mit militärischer Härte zu antworten. (…) Russland könnte es so gelingen, die NATO von innen auszuhöhlen.»
Bereits jetzt hat Trump die amerikanische Hilfe für die Ukraine massiv torpediert. Mike Johnson, der republikanische Speaker im Abgeordnetenhaus, hat bisher verhindert, dass über ein dringend benötigtes 60-Milliarden-Hilfspaket für die Ukraine abgestimmt werden konnte. Diese Woche soll das Geschäft behandelt werden, hat er zwar in Aussicht gestellt. Doch ob der trump-hörige Johnson seinen Worten Taten folgen lässt, ist fraglich.
Putins Truppen sind auf dem Vormarsch, und ohne Unterstützung des Westens ist es fraglich, wie lange die Ukraine noch Widerstand leisten kann. Gleichzeitig hängt die entscheidende Militärhilfe der USA von den Launen eines amoralischen und bloss auf die eigenen Interessen bedachten Ex-Präsidenten ab.
So gesehen ist Macrons Weckruf an Europa mehr als gerechtfertigt. Sollten sich Putin und Trump tatsächlich durchsetzen, dann sieht die Zukunft des alten Kontinents zappenduster aus. «Europa wäre gefangen zwischen Skylla und Charybdis (zwei Meeresungeheuer der griechischen Mythologie, Anm. d. Verf.), zwischen einem aggressiven Russland und einem wankelmütigen Amerika», stellen Fix/Kimmage fest. «Es ist daher keine fantastische Vorstellung, dass anstelle eines immerwährenden Friedens – und anstatt eines neuen eisernen Vorhanges – sich Chaos auf einem Kontinent ausbreiten würde, der schon sehr viel Krieg erleben musste.»
Irgendeiner musste es ja machen und in der Gruppe der grossen westlichen Staaten waren damals halt viele Regierungen gerade erst neu gewählt oder standen kurz davor abgelöst zu werden (DE, UK, IT) und eigneten sich so nicht als Verhandlungspartner.