Die Lage in der Ukraine ist ernst, sehr ernst. Präsident Wolodymyr Selenskyj macht keinen Hehl daraus. Vor wenigen Tagen nahm er gar ein Wort in den Mund, das er bis anhin möglichst vermied: «Rückzug».
Er warnte auch davor, dass im weiteren Verlauf des Krieges grössere Städte fallen könnten: Konkret geht es um Charkiw und Odessa, die Russland nur zu gerne annektieren würde.
Die nächste grössere russische Offensive wird im Sommer erwartet. Noch ist unklar, wo sie lanciert wird. Russland intensivierte in jüngerer Zeit seine Drohnen- und Raketenangriffe auf die ukrainische Infrastruktur, sowohl im Norden bei Charkiw und Sumy als auch im Süden bei Odessa.
Hochrangige ukrainische Militärs werden gegenüber Politico nun deutlich. Sie gaben bereitwillig Auskunft, unter der Bedingung, dass sie anonym bleiben dürfen. Sie hatten unter General Walerij Saluschnyj, dem ehemaligen Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte, gedient. Dieser wurde im Februar abgesetzt. Laut den Militärs sieht die Lage düster aus.
Das Risiko, dass die Frontlinien kollabieren, sei sehr gross. Dabei spiele es keine Rolle, wo die russischen Generäle die kommende Offensive starten würden. Dadurch, dass die Russen über viel mehr Truppen verfügen und verstärkt auf Gleitbomben setzen, werde die russische Armee vermutlich hinter die Frontlinien eindringen und diese an einzelnen Stellen zum Einsturz bringen können.
Es gebe keine ernstzunehmenden Technologien, die die Unterzahl der ukrainischen Truppen kompensieren könnten. Die Ukraine habe diese nicht und der Westen habe diese nicht in ausreichender Stückzahl, so einer der hochrangigen Militärs gegenüber «Politico».
Hoffnung machten ihm nur die ukrainische Entschlossenheit und der Wille zum Widerstand – und die Fehler der russischen Offiziere. Erst am Samstag wurden den ukrainischen Verteidigern ein gutes Dutzend Panzer und acht gepanzerte Fahrzeuge quasi auf dem Silbertablett serviert. Die ukrainische 25. Brigade schaltete damit ein Drittel der angreifenden Kolonne aus.
Doch auf russische Fehler zu bauen, sei keine Strategie, so die Militärs. Sie lamentieren auch die zögerliche Unterstützung des Westens. Waffenlieferungen kämen zu spät und in zu kleiner Zahl, dabei könnten diese wirklich einen Unterschied machen.
Oft kämen die Waffensysteme nicht dann in die Ukraine, wenn sie benötigt würden, sondern erst danach – wenn sie nicht mehr relevant seien, sagte einer der Militärs. Als Beispiel nannte er die F-16-Jets, die wohl erst im Sommer in der Ukraine eingesetzt werden können.
Das liege daran, dass Russland auf sie vorbereitet sei. Die Ukraine habe bemerkt, dass die russischen Truppen bereits ausloten, wo auf der Krim sie ihre S-400-Lenkwaffensysteme positionieren müssen, um die F-16 möglichst weit von der Front und der russischen Logistik zu halten.
Die anonymen Militärs sagten auch klar, was sie sich wünschen. «Wir brauchen Haubitzen und Granaten, Hunderttausende von Granaten und Raketen,» sagte einer von ihnen zu «Politico». Konkret brauchten sie vier Millionen Granaten und zwei Millionen Drohnen.
Europa wiederum versucht, seinen Teil beizutragen. Tschechien führt eine Initiative an, um Artilleriemunition für die Ukraine zu kaufen. So könnten 1,5 Millionen Granaten zu einem Preis von umgerechnet drei Milliarden Franken geliefert werden – das ist ein Anfang, wird aber nicht reichen.