International
Ukraine

Ukraine: Militärs warnen vor Front-Kollaps bei russischer Offensive

FILE.- Newly recruited soldiers toss their hats as they celebrate the end of their training at a military base close to Kyiv, Ukraine, Monday, Sept. 25, 2023. Ukraine has lowered the military conscrip ...
Der Wille zum Widerstand ist ungebrochen, doch der ukrainischen Armee fehlt es an Munition.Bild: keystone

«Grosses Risiko, dass die Front kollabiert»: Ukrainische Militärs warnen eindringlich

Hochrangige ukrainische Militärs berichten anonym von einer äusserst bedrohlichen Situation an der Front. Einer russischen Offensive könnte der Durchbruch gelingen, warnen sie.
04.04.2024, 19:58
Mehr «International»

Die Lage in der Ukraine ist ernst, sehr ernst. Präsident Wolodymyr Selenskyj macht keinen Hehl daraus. Vor wenigen Tagen nahm er gar ein Wort in den Mund, das er bis anhin möglichst vermied: «Rückzug».

Er warnte auch davor, dass im weiteren Verlauf des Krieges grössere Städte fallen könnten: Konkret geht es um Charkiw und Odessa, die Russland nur zu gerne annektieren würde.

Die nächste grössere russische Offensive wird im Sommer erwartet. Noch ist unklar, wo sie lanciert wird. Russland intensivierte in jüngerer Zeit seine Drohnen- und Raketenangriffe auf die ukrainische Infrastruktur, sowohl im Norden bei Charkiw und Sumy als auch im Süden bei Odessa.

Ukrainische Militärs warnen

Hochrangige ukrainische Militärs werden gegenüber Politico nun deutlich. Sie gaben bereitwillig Auskunft, unter der Bedingung, dass sie anonym bleiben dürfen. Sie hatten unter General Walerij Saluschnyj, dem ehemaligen Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte, gedient. Dieser wurde im Februar abgesetzt. Laut den Militärs sieht die Lage düster aus.

FILE - In this photo provided by the Ukrainian Presidential Press Office, Commander-in-Chief of Ukraine's Armed Forces Valeriy Zaluzhny, front, attends an event for marking Statehood Day in Mykha ...
Walerij Saluschnyj wurde im Februar abgesetzt.Bild: keystone

Das Risiko, dass die Frontlinien kollabieren, sei sehr gross. Dabei spiele es keine Rolle, wo die russischen Generäle die kommende Offensive starten würden. Dadurch, dass die Russen über viel mehr Truppen verfügen und verstärkt auf Gleitbomben setzen, werde die russische Armee vermutlich hinter die Frontlinien eindringen und diese an einzelnen Stellen zum Einsturz bringen können.

«Nichts kann der Ukraine jetzt helfen.»
Hochrangiger ukrainischer Militär

Es gebe keine ernstzunehmenden Technologien, die die Unterzahl der ukrainischen Truppen kompensieren könnten. Die Ukraine habe diese nicht und der Westen habe diese nicht in ausreichender Stückzahl, so einer der hochrangigen Militärs gegenüber «Politico».

Hoffnung noch nicht aufgegeben

Hoffnung machten ihm nur die ukrainische Entschlossenheit und der Wille zum Widerstand – und die Fehler der russischen Offiziere. Erst am Samstag wurden den ukrainischen Verteidigern ein gutes Dutzend Panzer und acht gepanzerte Fahrzeuge quasi auf dem Silbertablett serviert. Die ukrainische 25. Brigade schaltete damit ein Drittel der angreifenden Kolonne aus.

Doch auf russische Fehler zu bauen, sei keine Strategie, so die Militärs. Sie lamentieren auch die zögerliche Unterstützung des Westens. Waffenlieferungen kämen zu spät und in zu kleiner Zahl, dabei könnten diese wirklich einen Unterschied machen.

«Saluschnyj nannte es ‹den Krieg der einen Chance›. Damit meinte er, dass Waffensysteme sehr schnell überflüssig werden, weil sie von den Russen schnell gekontert werden. Wir haben zum Beispiel Storm Shadow und SCALP-Marschflugkörper [die von Grossbritannien und Frankreich geliefert wurden] erfolgreich eingesetzt – aber nur für kurze Zeit. Die Russen sind immer am Lernen. Sie geben uns keine zweite Chance. Und sie sind damit erfolgreich.»

Oft kämen die Waffensysteme nicht dann in die Ukraine, wenn sie benötigt würden, sondern erst danach – wenn sie nicht mehr relevant seien, sagte einer der Militärs. Als Beispiel nannte er die F-16-Jets, die wohl erst im Sommer in der Ukraine eingesetzt werden können.

«Die F-16 wurden 2023 gebraucht, 2024 passen sie nicht.»
Ukrainischer Offizier

Das liege daran, dass Russland auf sie vorbereitet sei. Die Ukraine habe bemerkt, dass die russischen Truppen bereits ausloten, wo auf der Krim sie ihre S-400-Lenkwaffensysteme positionieren müssen, um die F-16 möglichst weit von der Front und der russischen Logistik zu halten.

A Romanian airman makes the final checks on a F-16 military fighter jet that took part in an Air Policing exercise at the Baza 86 military air base, outside Fetesti, Romania, Wednesday, March 6, 2024. ...
Ein F-16-Jet der rumänischen Luftwaffe.Bild: keystone

Der Westen ist gefordert

Die anonymen Militärs sagten auch klar, was sie sich wünschen. «Wir brauchen Haubitzen und Granaten, Hunderttausende von Granaten und Raketen,» sagte einer von ihnen zu «Politico». Konkret brauchten sie vier Millionen Granaten und zwei Millionen Drohnen.

«Wir haben den westlichen Partnern die ganze Zeit gesagt, dass wir die Kampferfahrung haben, dass wir den Krieg auf dem Schlachtfeld verstehen. [Sie] haben die Ressourcen und müssen uns geben, was wir brauchen.»

Europa wiederum versucht, seinen Teil beizutragen. Tschechien führt eine Initiative an, um Artilleriemunition für die Ukraine zu kaufen. So könnten 1,5 Millionen Granaten zu einem Preis von umgerechnet drei Milliarden Franken geliefert werden – das ist ein Anfang, wird aber nicht reichen.

DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet, um die Zahlung abzuschliessen.)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
Der Terroranschlag in Moskau
1 / 19
Der Terroranschlag in Moskau
Rauch steigt über dem Krokus-Rathaus in der Stadt Krasnogorsk auf, wo Unbekannte das Feuer eröffnet haben. Die Evakuierung war im Gange.
quelle: www.imago-images.de / imago images
Auf Facebook teilenAuf X teilen
«Ich stelle mein Handy nie auf lautlos» – Oksana erzählt von ihrem Leben seit der Flucht
Das könnte dich auch noch interessieren:
Hast du technische Probleme?
Wir sind nur eine E-Mail entfernt. Schreib uns dein Problem einfach auf support@watson.ch und wir melden uns schnellstmöglich bei dir.
160 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
Die beliebtesten Kommentare
avatar
Walter Sahli
04.04.2024 20:12registriert März 2014
Wie beim Klimawandel, zu spät und zu wenig. Und die Ausrede, dass man im Nachhinein immer schlauer sei, gilt auch längst nicht mehr.
18628
Melden
Zum Kommentar
avatar
DerUhu
04.04.2024 20:17registriert Dezember 2019
West-Europa (inkl. CH) scheint einfach unfähig und unwillens zu sein aus der eigenen Denke/Komfortzone herauszukommen. Der Krieg ist trotz allem vermutlich immer noch zu weit weg. Alles wird ewig öffentlich hin und her diskutiert und auch nach einem Entschluss dauert es unfassbar lange bis etwas ankommt. Was genau so schwierig daran sein kann, diese konventionellen Systeme aus über 20 Armeen in solcher Zahl bereitzustellen das die Ukraine nicht jede Granate dreimal umdrehen muss um zumindest die aktuellen Stellungen zu halten, verstehe ich beim besten Willen nicht (mehr) 🤷‍♂️🤦‍♂️
14724
Melden
Zum Kommentar
avatar
Pebbles F.
04.04.2024 20:20registriert Mai 2021
Wie habe ich gehofft, dass wir uns in Europa nach dem 2. Weltkrieg keinen Krieg mehr erlauben würden. Dabei ist vielen von uns entgangen, dass Putin noch immer Krieg hat und diesen erbarmungslos weiterführt. Es ist ja sowas von 🤮.
12121
Melden
Zum Kommentar
160
«Your Body, my Choice»: Nick Fuentes provoziert mit Sexismus – und bekommt Zuspruch
Nach dem Sieg von Donald Trump hat die rechtsextreme Bubble in Amerika nochmals Aufschwung bekommen. An vorderster Front mit frauenfeindlichen Aussagen: Skandal-Aktivist Nick Fuentes.

Für die Republikaner waren die Wahlen in den USA ein grosser Erfolg. Donald Trumps Sieg hat aber vor allem auch den rechtsextremen Anhängern des 78-Jährigen Mut gemacht. Online provozieren sie mit frauenfeindlichen Parolen – und das Ganze ist längst kein Spass mehr.

Zur Story