Diese Zweifel, ob die Zahlen stimmen. Dieses quälende Gefühl, dass die Sache doch nicht gelaufen ist. Diese ungute Erinnerung an 2016, als alles für die Siegesfeier vorbereitet und der Schock am Ende umso grösser war. Solche Befindlichkeiten beschäftigen knapp zwei Wochen vor der US-Präsidentschaftswahl viele Anhänger der Demokraten.
Dabei sind die Aussichten rosig. So gut wie alle Indikatoren deuten darauf hin, dass Joe Biden gegen Donald Trump klar, womöglich sogar erdrutschartig gewinnen wird. In den nationalen Umfragen liegt er zehn Prozentpunkte und mehr vor Trump. In den meisten wahlentscheidenden Swing States ist er in Führung, wenn auch teilweise knapp.
Es fällt auf, wie stabil die Umfragen sind. 2016 waren sie ein ständiges Auf und Ab. Dieses Jahr scheinen die Meinungen gemacht zu sein. Die Prognosen, die neben den Polls weitere Parameter berücksichtigen, sehen Biden ebenfalls klar vorne. In Nate Silvers «538»-Modell, das 40’000 mögliche Wahlergebnisse simuliert, hat er eine Siegchance von 87 Prozent.
Joe Biden muss dafür kaum etwas tun. Er kann sich zurücklehnen und zuschauen, wie sich sein Kontrahent selbst zerlegt. Donald Trumps erratisches Verhalten, wenn er etwa den Immunologen Anthony Fauci beschimpft und die Coronapandemie trotz seiner eigenen Erkrankung weiter verniedlicht, treibt selbst Republikaner zur Verzweiflung.
Die Anzeichen, dass sich seine Kampagne in Rücklage befindet, häufen sich. So muss der Präsident Wahlkampfauftritte in Arizona, Georgia und Iowa absolvieren, wo er vor vier Jahren relativ klar gewonnen hatte. Dies ist ein sicheres Indiz, dass auch die von den Meinungsforschern seines Wahlkampfteams erstellten Umfragen schlecht aussehen.
Dazu geht Trump das Geld aus. Seine Crew musste in mehreren Swing States bereits gebuchte Werbezeit am Fernsehen canceln, weil sie nicht bezahlt werden konnte. Selbst die Wirtschaftskompetenz, Trumps vermeintlich grösster Trumpf, zieht laut einer Umfrage der «Financial Times» bei einem erheblichen Teil der Amerikaner nicht mehr.
Joe Biden bietet auch kaum Angriffsfläche, weshalb rechte Medien versuchen, einen Pseudo-Skandal um korrupte Machenschaften von Sohn Hunter Biden hochzukochen. Die Story ist dermassen dubios, dass zwei Journalisten des Revolverblatts «New York Post», die an der «Enthüllung» beteiligt waren, nicht mit ihrem Namen dazu stehen wollten.
Man könnte weitere Gründe nennen, warum Trumps Wiederwahl akut gefährdet ist. Dazu gehört das Bestreben der Republikaner, die Ernennung der Supreme-Court-Richterin Amy Coney Barrett durchzudrücken. Die Aussicht auf eine stramm rechte Mehrheit im Gericht dürfte linke Demokraten mobilisieren, die dem moderaten Biden bislang misstrauten.
Eine normale Wahl in einer funktionierende Demokratie könnte Joe Biden nicht verlieren. Aber die USA sind eine dysfunktionale Demokratie, und in Zeiten von Donald Trump ist nichts normal. Deshalb geht bei den Demokraten die Furcht um vor dem Déjà-Vu, einer Wiederholung von 2016, als Hillary Clinton auf der Ziellinie überholt wurde.
Er fühle sich gefangen «zwischen hemmungslosem Optimismus und nackter Angst», brachte Bill Bole, ein Politiker aus dem wichtigen Swing State Pennsylvania, in der «Washington Post» die Befindlichkeit vieler Demokraten auf den Punkt. «Wegen 2016 bleiben die Leute vorsichtig», sagte Lavora Barnes, die Parteichefin der Demokraten in Michigan.
Das betrifft auch Joe Bidens Entourage. Wahlkampfleiterin Jen O’Malley Dillon verschickte am Samstag ein Memo mit einer dringlichen Warnung: «Die nationalen Umfragen sagen sehr wenig aus über den Weg zu 270 Elektorenstimmen.» Diese sind nötig für den Sieg, doch in einigen wichtigen Staaten gebe es «faktisch ein Unentschieden».
Dies reflektiert einen Verdacht, der die Demokraten beschäftigt: Es könnte ein «verstecktes» Reservoir von Trump-Wählern existieren, das wie 2016 von den Umfragen nicht erfasst wird. Anzeichen dafür gibt es: So konnten die Republikaner laut der «New York Times» in Florida, North Carolina und Pennsylvania nochmals zusätzliche Wähler registrieren lassen.
Damit gelang es ihnen, in diesen für den Wahlausgang womöglich zentralen Staaten die Lücke zu den Demokraten zu verkleinern. Für die Wahl selbst sagt die Zahl der registrierten Wählerinnen und Wähler wenig aus, und ein Aspekt wird häufig übersehen: In den tief gespaltenen USA lassen sich immer mehr Menschen als «parteilos» eintragen.
Dennoch fragt man sich: Liegen die Umfragen wieder falsch? Diese Vermutung ist unfair, denn so schlecht waren die Umfragen vor vier Jahren gar nicht, zumindest auf nationaler Ebene. Viele amerikanische Meinungsforscher räumen aber ein, dass das Segment der weissen Wählerinnen und Wähler ohne College-Ausbildung zu wenig erfasst wurde.
Einige Institute haben es nun stärker gewichtet, jedoch nicht alle. Der wichtigste Grund aber, warum man dem US-Präsidenten eine erneute Überraschung zutraut, ist er selbst. Donald Trump ist ausserhalb jeglicher Norm. Die üblichen Kriterien, an denen man politische Errungenschaften messen kann, sind auf ihn nicht anwendbar. Oder sie werden sogar auf den Kopf gestellt.
Als watson-Mitarbeiter Johann Aeschlimann eine Trump-Rally in Florida besuchte, erhielt der Präsident den stärksten Applaus, als er erklärte: «Ich bin kein Politiker.» Das ist tatsächlich kein Witz, sondern das Geheimnis seines Erfolges. Trump verkauft sich als Anti-Politiker, ein Image, das er auch nach bald vier Jahren an der Macht konservieren konnte.
Deshalb ignorieren seine Fans alle Flops, das Versagen in der Coronakrise, die nicht gehaltenen Wahlversprechen, die Korruption, die endlosen Lügen, die Hetze auf Twitter. Sie drehen diese Dinge gar ins Gegenteil um, denn Donald Trump verspricht ihnen das, was mehr zählt als alles andere: die Sicherung der weissen Vorherrschaft in Amerika.
Viele Demokraten sind deshalb alarmiert, denn Trump hat wiederholt angedeutet, dass er eine Niederlage gegen Biden nicht akzeptieren würde. Und bereit ist, sie mit allen möglichen Machenschaften zu verhindern, etwa indem Briefstimmen für ungültig erklärt werden oder Trump-Anhänger vor Wahllokalen in demokratischen Hochburgen «patrouillieren».
Bis zum Wahltag kann ebenfalls noch einiges passieren. «Wir wissen nicht, welchen Irrsinn Trump noch lostreten wird», sagte der Aktivist Matt Bennett gegenüber Politico. Jeder Tag sei eine Woche und jede Woche ein Monat: «Die Zeit bis zum 3. November wird sich lang anfühlen.» Joe Biden bleibt trotz allem der Favorit – aber Trump bleibt auch Trump.
Und trotzdem kommt es mir vor wie ein schlechter Film.