Die Herrschaft des Pöbels gilt allgemein als die grösste Gefahr für die Demokratie und den Rechtsstaat. Doch auch umgekehrt wird ein Schuh draus. Die beiden Politologen Steven Levitsky und Daniel Ziblatt warnen in ihrem jüngsten Buch vor einer Diktatur der Minderheit.
Besonders akut ist diese Gefahr gemäss den beiden Harvard-Professoren derzeit in den USA. Sie schreiben: «Gesellschaftliche Diversität, kultureller Backlash und rechtsextreme Parteien sind in den westlichen Demokratien weitverbreitet. Aber nur in Amerika haben solche Extremisten teilweise die Kontrolle über die nationale Regierung gewonnen und können die demokratischen Institutionen angreifen.»
Zu diesem Schluss kommt auch Francis Fukuyama. In einem Gastkommentar in der «Financial Times» vom vergangenen Wochenende stellt er fest: «Seit einiger Zeit zerfallen die amerikanischen Institutionen und jetzt befinden wir uns in einer schweren Krise. (…) Der politische Zerfall beginnt dann, wenn sich die gesellschaftlichen Institutionen nicht mehr den sich ändernden Umständen anpassen können. Dieser Prozess hat vor einer Generation begonnen und gipfelt jetzt in einer enormen Krise, deren Folgen wir in den nächsten acht Monaten erleben werden.»
Die derzeit grösste Gefahr einer militanten, anti-demokratischen Bewegung stammt nicht von kahlköpfigen, randalierenden Neonazis. Sie stammt von artigen, christlichen Nationalisten. So hat etwa der rechtsextreme Aktivist Jack Posobiec an der CPAC-Konferenz, dem Woodstock der Konservativen, erklärt: «Wir müssen die Demokratie begraben und zu Ende führen, was am 6. Januar 2021 begonnen hat. Aller Ruhm gebührt nicht der Regierung, aller Ruhm gebührt Gott.»
An dieser Stelle eine Klarstellung: Nur eine Minderheit der Christen in den USA kann man als christliche Nationalisten bezeichnen. Gemäss einer Untersuchung des PRRI/Brooking Christian Nationalism betrug deren Anteil im Jahr 2023 rund zehn Prozent. Viele Christen sind liberal und sozial engagiert. Das bekannteste Beispiel war Martin Luther King Jr., der bekanntlich ein Priester der Baptisten war.
David French, ein konservativer Kolumnist bei der «New York Times», hält deshalb fest: «Das Problem mit dem christlichen Nationalismus besteht nicht darin, dass sich Christen an der Politik beteiligen. Es besteht vielmehr darin, dass christliche Nationalisten überzeugt sind, dass ihr Glauben über der Politik und dem Recht steht.»
Was dies in der Praxis für Konsequenzen hat, zeigt das Beispiel des Bundesstaates Alabama. In diesem sehr konservativen Südstaat hat der sehr gottesfürchtige Oberste Richter entschieden, dass nicht nur die Abtreibung des Teufels sei. Selbst die In-vitro-Fertilisation (IVF) ist in Alabama in Gefahr. Denn der Oberste Gerichtshof hat entschieden, dass befruchtete, aber überzählige Embryos nicht entsorgt werden dürfen, selbst wenn Eltern und Ärzte dies gemeinsam so entschieden haben.
Begründet wird dieses Urteil wie folgt: Das Leben beginnt bei der Befruchtung des Eis. Folgerichtig sind befruchtete Embryos Babys. Die Tatsache, dass die überwiegende Mehrheit der Amerikanerinnen und Amerikaner IVF befürwortet, lässt Richter Tom Parker kalt. Er beruft sich auf die Bibel, respektive den Propheten Jeremia, der schon im siebten Jahrhundert vor Christus in Bezug auf Gott festgehalten hat: «Bevor ich dich in der Gebärmutter geformt habe, habe ich dich gekannt. Bevor du zur Welt gekommen bist, habe ich dich gesegnet.»
Christliche Nationalisten wollen das Rad der Zeit zurückdrehen. Nicht nur die Abtreibung soll wieder verboten werden – auch bei Vergewaltigung, Inzest und Lebensgefahr für die Mutter –, selbst die Verhütung soll eingeschränkt und die Homo-Ehe wieder aufgehoben werden. All dies ist in ihren Augen ein Zeichen der Dekadenz.
Sie stellen daher die bisher gültige Betrachtungsweise der USA auf den Kopf. Sprach der konservative Präsident Ronald Reagan in den Achtzigerjahren von Amerika als «leuchtende Stadt auf einem Hügel», so sehen die christlichen Nationalisten die USA heute als Inbegriff weltlicher Dekadenz und moralischer Korruption. Diese Ansicht hat sich bis in höchste Ämter durchgesetzt. Mike Johnson, der Speaker im Abgeordnetenhaus, ist ein Evangelikaner. Er bezeichnet Abtreibung als «amerikanischen Holocaust».
Damit trifft er sich mit Donald Trump und der MAGA-Meute. Auch der Ex-Präsident beschwört unentwegt den Niedergang der USA. Auch er will die vermeintliche Dekadenz der globalen Elite mit einem eisernen Besen hinwegfegen. Wie Trump in den USA ein autoritäres Regime errichten will, ist inzwischen bestens bekannt. Er will nicht nur sein Kabinett mit absolut loyalen Mitarbeitern besetzen, sondern auch die Verwaltung. Er will die Gerichte und das Justizministerium für seine Rache einspannen, und er will die kritischen Medien ausschalten.
Obwohl Trump alles andere als einen modellhaften christlichen Lebenswandel führt, macht ihn dies zum Messias der christlichen Nationalisten. Sie wollen einen Diktator und spucken auf Demokratie und Rechtsstaat. Dass sie damit krass gegen die Verfassung und die in den USA geltende Trennung von Religion und Staat verstossen, stört sie nicht weiter.
Auch nicht, dass Amerika sich so mit grossen Schritten einer Dystopie nähern wird, wie sie Margaret Atwood in ihrem Roman «Der Report der Magd» oder Robert Harris in «Der zweite Schlaf» so beängstigend beschreiben.
Es ist sogar noch schlimmer: Liberal denkende Menschen gehen freiwillig in diese GOP-Gottesstaaten "weil man sich da noch ein Haus leisten kann" oder "weil da die Steuern geringer sind." Damit machen sie auch in liberalen Gegenden Platz für die GOP - da ihre Stimmen fehlen. Dort wo sie hinziehen hat ihre Stimme keinen Wert durch Gerrymandering.