Der Schock sitzt tief. Aber überrascht? Das kann niemand sein, der halbwegs bei Verstand ist. Was sich gestern Nachmittag Ortszeit im Herzen der US-Demokratie abspielte, war die Vollendung einer jahrelangen politischen Geisterbahnfahrt. Und eine Bankrotterklärung der Republikanischen Partei, die sich einem Irren unterworfen hat.
Der Sturm der enthemmten Trump-Anhänger auf das Kapitol in Washington war nichts weniger als ein Angriff auf die Demokratie an sich. Denn der Mob wollte die definitive Ernennung des in einem freien, sauberen und sicheren Verfahren gewählten Demokraten Joseph Biden zum 46. Präsidenten der Vereinigten Staaten verhindern.
Man darf einen historischen Vergleich wagen: Die Attacke vom Mittwoch erinnert an die Terroranschläge vom 11. September 2001. Sie ist quasi das symbolhafte und ideologische 9/11 der Republikaner. Mit Trump in der Rolle von Osama bin Laden.
Geht das zu weit? Die einzige Person, die durch direkte Gewalteinwirkung ums Leben kam, war eine Trump-Anhängerin. «Echte» Terroristen hätten ganz anders zugeschlagen als diese wilde Ansammlung von Wirrköpfen. Reince Priebus aber bezeichnete sie als «inländische Terroristen». Er war Donald Trumps erster Stabschef im Weissen Haus und zuvor Parteichef der Republikaner.
Vor dem Hauptquartier der Grand Old Party (GOP) in Washington wurde am Mittwoch eine Rohrbombe entdeckt. Sie konnte kontrolliert zur Explosion gebracht werden. Die Urheber sind unklar, aber für fanatische «Trumpisten» sind jene Republikaner, die nicht zu 150 Prozent hinter ihrem Helden stehen, noch grössere Verräter als die Demokraten.
Für die Partei beginnt nun ein langer und schwieriger Prozess der Selbstfindung. Sie hat sich dem Trumpismus in den letzten vier Jahren vollständig unterworfen und nun den «Dank» dafür geerntet. «Meine republikanischen Freunde, Trump zerstört uns», mahnte Jeff Flake, ein früherer Senator aus Arizona, in der «New York Times».
Flake gehört zu den wenigen Republikanern, die sich dem Präsidenten widersetzt und damit ihre Karriere zerstört hatten. Nun ist es die GOP selbst, die in Trümmern liegt. Der Verlust der beiden Senatssitze in Georgia kann als eine Art Vorspiel für das betrachtet werden, was der Partei blühen wird, wenn sie nicht dem Trumpismus abschwört.
Beispielhaft dafür ist das Verhalten des Präsidenten am Mittwoch. Während Joe Biden eine eindringliche, würdevolle und in jeder Hinsicht präsidiale Rede hielt und sich am Anfang und Ende sogar dafür entschuldigte, dass er so spät aufgetreten war, musste Donald Trump laut US-Medien von seinen Mitarbeitern vor die Kamera gezerrt werden.
Was er ablieferte, war ein Dokument der Niedertracht und der menschlichen Bosheit. Der Aufruf an den Mob, nach Hause zu gehen, war umrahmt von den üblichen Lügen über angeblichen Wahlbetrug. Sie waren Trumps eigentliche Botschaft. Die US-Fernsehsender weigerten sich, das Video auszustrahlen. Oder sie zeigten nur den Aufruf zum Rückzug.
Nachdem der Kongress Bidens Wahlsieg in der Nacht auf Donnerstag bestätigt hatte, versuchte Trump, den Schaden zu begrenzen. Er stellte eine ordentliche Amtsübergabe am 20. Januar in Aussicht. Eigentlich müsste sogar seine Absetzung unter Berufung auf den 25. Verfassungszusatz eine Option sein, aber dann könnte er sich erst recht als Opfer fühlen.
Zumindest darf es für Donald Trump keine Zukunft in der Republikanischen Partei geben. Und schon gar keine Kandidatur bei den Wahlen 2024. Mit ihm in den Abgrund stürzen sollten feige Opportunisten wie Ted Cruz, Lindsey Graham und Josh Hawley. Sie wollen ins Weisse Haus und haben sich deshalb beim Trump-Mob eingeschleimt.
Eine Auferstehung der speziellen Art erlebte dafür Vizepräsident Mike Pence. In kürzester Zeit wurde er von der politischen Leiche zu einer Art Lichtgestalt, weil er sich vorbehaltlos hinter den demokratischen Prozess stellte. Auch Pence hatte sich Trump zu lange unterworfen, aber im entscheidenden Moment zeigte er so etwas wie Rückgrat.
Damit ist er auf einmal wieder ein ernsthafter Anwärter auf die Präsidentschaft. Im letzten Moment die Kurve gekriegt hat auch Mitch McConnell, der bisherige Mehrheitsführer im Senat. Auch er hatte (zu) lange geschwiegen, doch nur Minuten vor dem Sturm auf das Kapitol rief er in einer fulminanten Rede zur Anerkennung von Joe Bidens Wahlsieg auf.
McConnell ist ein Zyniker der Macht, er besitzt aber auch ein feines Gespür für das politisch Machbare. Es hat ihn nicht im Stich gelassen. Nun könnte der bald 80-jährige Senator aus Kentucky sogar zu einer Schlüsselfigur der republikanischen Erneuerung werden, indem er auf Präsident Biden zugeht und mit ihm Kompromisse schmiedet.
Das politisch völlig zerrissene und wirtschaftlich durch die Coronakrise gebeutelte Land hätte sie dringend nötig. Vor allem müssen jene verbitterten Menschen eine Perspektive erhalten, die dem Rattenfänger Trump auf den Leim gekrochen sind. Es sind Menschen aus der unteren Mittelschicht, für die der American Dream längst zum Albtraum geworden ist.
Das ist alles andere als einfach, sondern ein unglaublicher Kraftakt. Aber die Republikaner müssen den Trumpismus überwinden. Die Basis ist vorhanden, das zeigen die mutigen Amtsträger in den Bundesstaaten wie Brad Raffensperger in Georgia, die sich dem Druck und den Drohungen der Trumpisten widersetzt und das Wahlergebnis verteidigt haben.
Die liberale Demokratie aber hat durch den Sturm auf das Kapitol einen beträchtlichen Schaden erlitten. Freuen darüber werden sich die Autokraten in Moskau oder Peking, in Ankara oder Teheran. Sie dürften sich beim Anblick der Bilder aus Washington auf die Schenkel geklopft haben. Es ist ein besonders übles Vermächtnis des Trumpismus.
Doch! Das ist Amerika, ein Teil, der zu lange als blinder Fleck ignoriert worden ist und nun schmerzlich ins Zentrum rückt.
Ich hoffe sehr, dass jetzt genau hingeschaut wird, damit dieser Aufarbeitungsprozess gemeinsam statt finden kann und Schlimmeres verhindert wird.