Gegen Ende der Dreissigerjahre waren die Amerikaner alles andere als gewillt, Europa im Kampf gegen Hitler zu unterstützen. Die Ansicht, im Ersten Weltkrieg seien zu viele US-Soldaten unnütz an der Front gegen den Kaiser gestorben, war weit verbreitet. Der Isolationismus befand sich auf dem Vormarsch. Wie heute herrschte eine starke «American-first»-Stimmung und auch eine teilweise offene Sympathie für Nazi-Deutschland.
Erst der Luftkrieg gegen das Vereinigte Königreich führte zu einem Meinungsumschwung. Präsident Franklin Roosevelt konnte nun das «Lend-Lease»-Gesetz durch den Kongress boxen, ein Hilfspaket für die arg bedrängten Briten. Das Gesetz trat im März 1941 in Kraft. Es war ein wichtiger Wendepunkt im Zweiten Weltkrieg und veranlasste Winston Churchill zu einem seiner legendären Zitate: «Die Amerikaner tun stets das Richtige – nachdem sie alles andere ausprobiert haben.»
Dieses Zitat wird sich Wolodymyr Selenskyj zumindest gedacht haben. Nach einem monatelangen nervenaufreibenden Ringen und perfiden Ablenkungsmanövern von Donald Trump und seinen Adlaten hat das Abgeordnetenhaus jetzt endlich einem 60-Milliarden-Dollar-Hilfspaket für die Ukraine zugestimmt.
Auch dieses Gesetz könnte einen Wendepunkt im Krieg in der Ukraine einleiten, nicht nur, weil es ermöglicht, dass die ukrainischen Soldaten endlich moderne Waffen und vor allem die dringend benötigte Artilleriemunition erhalten. Es signalisiert auch, dass die USA weiterhin gewillt sind, ihren Verpflichtungen gegenüber den Verbündeten nachzukommen und die liberale Weltordnung zu verteidigen.
So wie sich im Zweiten Weltkrieg allmählich eine Front gegen die Achsenmächte bildete, entsteht derzeit eine neue Front gegen die neue «Achse des Bösen», gegen Russland, China und den Iran. Auch die Europäer haben realisiert, dass sie ihre Waffenindustrie hochfahren müssen, um die Ukraine in ihrem epischen Kampf gegen den neuen Zaren Wladimir Putin zu unterstützen. Japan und Südkorea machen ebenfalls mit. «Die ‹westliche Allianz› ist daher in der Realität zu einem globalen Netzwerk geworden, das sich im Kampf gegen eine Reihe von regionalen Konflikten sieht», stellt Gideon Rachman in der «Financial Times» fest.
Diese Entwicklung löst eine Gegenreaktion bei der «Achse des Bösen» aus. Russland hat sich definitiv vom Westen verabschiedet. «Seit der Krieg ausgebrochen ist, betont Putin regelmässig, dass der wahre Feind nicht die Ukraine, sondern der Westen sei», stellt Alexander Gabuev, Direktor des Russia Eurasia Center in Berlin, im Magazin «Foreign Affairs», fest.
Besonders schmerzhaft für die Russen ist der Bruch mit Deutschland. Der Traum, dass deutsche Ingenieurkunst und russische Rohstoffe dereinst ein Gegengewicht zur angelsächsischen Hegemonie bilden könnten, ist geplatzt. Die Vertreter dieses Traums, allen voran Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder, sind Parias geworden. «So wie die Dinge stehen, kann Moskau keine Deals mehr mit Berlin abschliessen und so die russischen Verbindungen zu Europa wiederbeleben», stellt Stephen Kotkin, Politologe an der Standford University, ebenfalls in «Foreign Affairs» fest.
Je geschlossener der Westen sich gegen Russland wendet, desto gefestigter wird jedoch auch die Ehe zwischen Moskau und Peking. Nicht nur die Bromance-Beteuerungen zwischen Xi Jinping und Wladimir Putin – die beiden bezeichnen sich regelmässig als «liebster Freund» oder mein «bester Freund» – sprechen eine deutliche Sprache. Die wirtschaftlichen Beziehungen der beiden Länder sind geradezu explodiert. Noch vor zehn Jahren tauschten sie Güter und Dienstleistungen im Wert von rund 80 Milliarden Dollar miteinander aus. 2023 betrug die Summe 230 Milliarden Dollar.
Die beiden Staatsoberhäupter betonen zwar, es handle sich um eine «Partnerschaft ohne Grenzen». Tatsächlich sind die Gewichte einseitig und zugunsten Chinas verteilt. Russland exportiert primär billiges Gas, Öl und andere wichtige Rohstoffe. Importiert werden im Gegenzug Autos, Laptops und vor allem Chips und Drohnen, die für die Kriegswirtschaft so wichtig sind und die der Westen seit Kriegsausbruch nicht mehr liefert.
Chinas Wirtschaft ist nicht nur die zweitgrösste der Welt geworden, sie ist der russischen auch technologisch weit überlegen. Daher mag die Partnerschaft grenzenlos sein, die Machtverhältnisse sind es nicht. «Als die grössere und technologisch fortgeschrittenere Volkswirtschaft, die zudem immer noch pragmatische Beziehungen zum Westen unterhält und viel mehr Optionen als Russland hat, wächst der Einfluss auf den nördlichen Nachbarn», stellt Gabuev fest. «Russland wird zu einem Vasallen Chinas.»
Die zunehmende Abhängigkeit von China ist auch im Kreml kein Geheimnis. Mit einem Verweis auf die Geschichte nimmt man sie jedoch in Kauf. Schon im 13. Jahrhundert befand sich Russland einst unter der Herrschaft der Mongolen. Die Mongolen seien zwar arrogant und grausam gewesen, erklärte Putin in einer Rede im vergangenen Jahr. «Aber sie haben nie unseren bedeutendsten Schatz angerührt – unsere Sprache, unsere Tradition und unsere Kultur. Genau das wollen die westlichen Aggressoren immer tun.»
So stabil die russisch-chinesische Ehe derzeit erscheinen mag, es warten auch harte Prüfungen auf sie:
«Die Welt verändert sich, wie wir es seit 100 Jahren nicht mehr erlebt haben. Lasst uns diese Veränderungen gemeinsam vorantreiben», hat Xi Putin als Abschiedsgruss anlässlich dessen Besuch in Peking im März 2023 mit auf die Reise gegeben. Der russische Präsident hat eifrig zugestimmt. Inzwischen ist jedoch auch der Westen aufgewacht.
Gabuev fasst die sich abzeichnende Doktrin wie folgt zusammen: «Sollte das chinesisch-russische Tandem Bestand haben, dann müssen die westlichen Staatsoberhäupter eine Langzeit-Strategie entwickeln, welche zum Ziel hat, den Frieden zu sichern und die sich bewusst ist, dass man sich gleichzeitig mit China und Russland im Wettbewerb befindet.»
Es handelt sich um eine äusserst ungleiche Partnerschaft, in der Russland den Status eines Vasallen Chinas einnimmt.
Diese Bindung gefährdet nicht nur Russlands Souveränität massiv, sondern verstärkt auch extrem die autoritären Tendenzen in der globalen Politik.
Letztendlich wird Russland zu einem unbedeutenden Juniorpartner degradiert, der seine totale Unabhängigkeit aufs Spiel setzt, während China davon in allen Bereichen profitiert.
Kein Win-Win in Aussicht!