Warum Putin in argen Nöten ist
In den vergangenen Monaten waren die Meldungen aus der Ukraine meist negativ. Der Tenor lautete in der Regel wie folgt: Russische Truppen haben wieder ein Dorf erobert, den Ukrainern gehen die Soldaten aus, Wolodymyr Selenskyj wird gleichzeitig autoritärer und unbeliebter, und natürlich weiss man beim Wackelpudding Donald Trump nie, woran man ist.
Tatsächlich ist das Verhalten des US-Präsidenten mit rationalen Kriterien nicht zu erklären. Zunächst erniedrigte er den Präsidenten der Ukraine – und damit auch die Europäer – im Oval Office aufs Übelste. Er habe miese Karten und solle doch endlich nachgeben, warf Trump Selenskyj an den Kopf.
Sein Vize J.D. Vance und sein Verteidigungsminister Pete Hegseth doppelten im Vorfeld und bei der Münchner Sicherheitskonferenz mit verheerenden Auftritten nach. Und als der US-Präsident seinem russischen Amtskollegen in Alaska den roten Teppich ausbreitete, schienen sich die schlimmsten Befürchtungen zu bewahrheiten.
Plötzlich ist alles wieder ganz anders. «Mit der Unterstützung der Europäischen Union ist die Ukraine in einer Position, zu kämpfen, ja zu GEWINNEN», postete Trump kürzlich auf Truth Social. Gleichzeitig bezeichnete er Russland als «Papiertiger» und machte seine Armee lächerlich: «Seit dreieinhalb Jahren kämpft die russische Armee ziellos für etwas, das eine wahre Militärmacht in weniger als einer Woche erreicht hätte», so der US-Präsident.
Auch Russlands Wirtschaft sei «in grossen Nöten», fügte der US-Präsident noch an.
Nun ist Trump nicht wirklich für seine Standhaftigkeit bekannt. Gut möglich also, dass er schon morgen wieder das Gegenteil behauptet. Vielleicht will er sich auch nur vom Acker machen, weil sein Versprechen, diesen Krieg am ersten Tag seiner Amtszeit zu beenden, nur noch lächerlich wirkt.
Es könnte jedoch auch sein, dass er sich nicht länger von Putin zum Affen machen lassen will. Im Fall des Irans hat Trump zudem bewiesen, dass er gelegentlich seine Drohungen auch wahr zu machen pflegt. Wenn er also heute Putin droht, den nächsten russischen Jet, der den Nato-Luftraum verletzt, abzuschiessen, dann meint er es vielleicht sogar ernst.
Vor allem ist es denkbar, dass der amerikanische Geheimdienst Trump verklickert hat, dass Selenskyj weit bessere Karten als bisher angenommen hat. Derzeit läuft es der russischen Armee alles andere als gut. Immer mehr Militärexperten glauben, dass ihre Sommeroffensive gescheitert ist.
Das zeigt sich etwa am Beispiel von Pokrowsk. Diese Stadt im Oblast Donezk ist die entscheidende Festung gegen einen russischen Vormarsch im Donbas. Um diese Stadt einzunehmen, hat Putin weder Material noch Menschen geschont. Die Ukrainer haben sie bisher eisern und erfolgreich verteidigt.
Dabei schien den Russen vor ein paar Wochen ein entscheidender Durchbruch gelungen zu sein, um Pokrowsk zu umzingeln. Dieser Durchbruch erweist sich jetzt offenbar nicht als strategische Meisterleistung, sondern als Massengrab für russische Soldaten. Sie werden von ukrainischen Drohnen aufgespürt und erledigt. Allein im laufenden Jahr sollen gegen 300’000 russische Soldaten getötet und verwundet worden sein.
Die hohen Verluste stehen in keinem Verhältnis zu den Gewinnen. «Die Russen versuchen, den Eindruck zu erwecken, dass sie unablässig vordringen. Tatsächlich ist es ihnen seit dem Frühling 2022 nicht gelungen, ein bedeutendes strategisches Ziel zu erobern, Städte wie Kiew, Charkiw oder Cherson beispielsweise», stellt der Historiker Yuval Harari in der «Financial Times» fest.
Harari vergleicht die militärische Situation der russischen Armee in der Ukraine mit dem Verhalten der Generäle im Ersten Weltkrieg, die «zehntausende von Soldaten opferten, um ein paar Kilometer wertloses Land zu erobern». Für die Ukraine hingegen mache es «sehr viel Sinn, sich taktisch zurückzuziehen und ihre Stärke und das Leben ihrer Soldaten zu schonen, während die Russen ausbluten, um bedeutungslose Erfolge zu erzielen».
Trumps Kritik an der russischen Armee hat demnach einen wahren Kern. Obwohl die Ukrainer keine Kriegsschiffe besitzen, haben sie mit einem geschickten Einsatz von Drohnen die Russen aus dem Schwarzen Meer vertrieben. Der russischen Flugwaffe ist es derweil nicht gelungen, den Luftraum über der Ukraine zu beherrschen, ja sie musste diesen Sommer eine peinliche Niederlage einstecken, als ukrainische Drohnen mehrere ihrer Bomber zerstörten.
Putin kann auch nicht damit rechnen, dass den Ukrainern die Waffen ausgehen. Trump will zwar nicht mehr bezahlen. Er will aber weiter liefern, sofern die Europäer die Rechnung begleichen. Hier zeichnet sich eine Lösung ab. Deutschlands Bundeskanzler Friedrich Merz fordert die EU auf, die eingefrorenen russischen Vermögen dazu zu verwenden, den Kriegsaufwand der Ukraine zu finanzieren. Es handelt sich dabei um rund 140 Milliarden Euro. Gegenüber der «Financial Times» versichert Merz, es sei unumgänglich, «die Kosten für die russische Aggression systematisch zu erhöhen». Merz will seinen Vorschlag diese Woche bei einem Treffen der EU-Staatsoberhäupter in Kopenhagen vorbringen.
Nicht nur die russische Armee stagniert. Die Wirtschaft ist in eine – wenn auch milde – Rezession verfallen. Der durch einen Kriegs-Keynesianismus ausgelöste Boom ist vorbei. «Fast alle Branchen sind im Minus», stellt die NZZ fest.
Auch diesbezüglich gehen die Ukrainer taktisch geschickt vor. Sie greifen systematisch russische Ölraffinerien an und zerstören damit die finanzielle Grundlage der russischen Kriegsmaschinerie. Seit Beginn des Augusts gingen 38 russische Raffinerien in Flammen auf, die russische Ölproduktion muss deshalb eine Einbusse von einer Million Fass pro Tag verkraften. Selbst weit entfernte Produktionsstätten sind nicht mehr sicher. Eine der grössten Raffinerien in Wolgograd – fast 1000 Kilometer von Moskau entfernt – wurde kürzlich von ukrainischen Drohnen getroffen.
Die EU hat bereits 18 Sanktionspakete gegen Russland verhängt, ein 19. wurde vor 10 Tagen beschlossen. Allmählich zeigen diese Sanktionen auch Wirkung. «Im nationalen Wohlstandsfonds, in dem Geld aus Rohstoffeinnahmen für härtere Zeiten angespart worden waren, liegt nach dreieinhalb Jahren Kriegsführung noch ein Viertel des ursprünglichen Vermögens», so die NZZ.
Auf hoher See und im Krieg sei man unkontrollierbaren Kräften ausgeliefert, heisst es. Das gilt auch für den Krieg in der Ukraine. Seinen Ausgang prophezeien zu wollen, ist daher ein sinnloses Unterfangen. Zu Recht stellt Yuval Harari jedoch fest, dass Putin schon eine entscheidende Niederlage erlitten hat. Kriege werden nicht nur auf dem Schlachtfeld, sondern auch in den Köpfen der Menschen entschieden. Putin ist dem Irrglauben aufgesessen, die Ukraine sei gar keine Nation, sondern ein Teil Russlands, und die Menschen würden daher seine Soldaten als Befreier bejubeln.
Dem war nicht so. «Wie immer sich der Krieg in den kommenden Monaten auch entwickeln wird», so Harari, «die Erinnerung an die russische Invasion, an russische Grausamkeiten und ukrainische Opfer wird weiterleben und den Patriotismus der Ukrainer für Generationen am Leben erhalten.»