In einem Krieg ist die Wahrheit bekanntlich das erste Opfer. Daher ist es wichtig, drei gängige Mythen über Wladimir Putin zu entlarven.
Wer heute über die Situation in der Ukraine diskutiert, wird früher oder später mit folgendem Argument konfrontiert werden: Ja, Putin mag ein übler Diktator, vielleicht gar ein kaltblütiger Killer sein. Doch in einem Punkt hat er recht: Er muss sich mögliche Feinde vom Leib, respektive von der russischen Grenze halten. Napoleon und Hitler lassen grüssen. Und übrigens: Was würden die Amerikaner sagen, wenn Russland Truppen in Kanada oder Mexiko stationieren würde?
Was auf den ersten Blick einleuchtend sein mag, ist auf den zweiten doppelt falsch. Es ist heute ausgeschlossen, dass Russland vom Westen angegriffen wird. Warum auch? Der Handel zwischen Russland und Europa ist für beide Seiten segensreich. Hitlers Vorstellung, Russland als riesige Kornkammer und seine Bewohner als Sklaven zu missbrauchen, war damals idiotisch und heute nur noch lächerlich. Zudem ist es selbst mit den modernsten Waffen de facto unmöglich, das grösste Land der Welt zu besetzen.
Und was ist mit dem Kanada/Mexiko-Vergleich? Damit dieses Szenario eintreffen könnte, müssten die Kanadier und Mexikaner zunächst ein Interesse daran haben, sich einem militärischen Bündnis mit Moskau anzuschliessen. Die Kanadier mögen derzeit ihre Probleme mit ein paar durchgeknallten Truckern haben und die Mexikaner ihre Sorgen mit der Drogenmafia. Doch die Vorstellung, dass die beiden Länder sich nach russischen Soldaten oder Raketen auf ihrem Boden sehnen, ist so wahrscheinlich, wie dass es morgen Katzen regnen wird.
Anstatt über eine eingebildete Bedrohung Russlands durch den Westen zu jammern, sollten Putin und seine Versteher sich fragen: Wie kommt es eigentlich dazu, dass die Mehrheit der Ukrainer unbedingt der EU beitreten und sich der Nato anschliessen will? Tipp: Ein Blick in die Geschichte des 20. Jahrhunderts könnte sich als hilfreich erweisen.
Die Russen haben, aus welchen Gründen auch immer, das Bedürfnis, eine Grossmacht zu sein. Der frömmelnde Zar Alexander II. sah sich als christliches Vorbild für den dekadenten Westen. Josef Stalin wollte mit dem Homo sovieticus den Menschen der Zukunft schaffen.
Auch heute noch träumen die Russen den Grossmachts-Traum. Das zeigt Swetlana Alexijewitsch in ihrem Nobelpreis-gekrönten Werk «Secondhand-Zeit» auf – übrigens das vielleicht wichtigste Buch über das Russland der Gegenwart.
Für Putin war bekanntlich der Untergang der UdSSR das schlimmste Ereignis des 20. Jahrhunderts. Er will zwar nicht die Sowjetunion wiederauferstehen lassen, doch er will Russland wieder zu einer Grossmacht machen. Auch deshalb ist es ihm so wichtig, die Ukraine heim ins Reich zu führen. Dieses Ziel hat er in einem längeren Essay im vergangenen Sommer ausgeführt.
Mit den aktuellen Kriegsspielen entfernt sich der russische Präsident jedoch immer weiter von diesem Ziel. Statt den Westen zu entzweien, hat er ihn geeint. Die Reihen der Nato sind so geschlossen wie schon lange nicht mehr. Ob Biden, Macron oder Scholz, sie alle sind entschlossen, einen allfälligen russischen Einmarsch mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln zu bekämpfen.
Putin ist daher gezwungen, andere Partner zu suchen. Er glaubt, er habe nun einen solchen Partner in Xi Jinping gefunden. Dabei könnte er sich bös geirrt haben. Wie der «Economist» festhält, «würde Russland (bei einer Partnerschaft mit China, Anm. d. Verf.) dazu verurteilt, Juniorpartner eines unsentimentalen Regimes zu werden, welches es als diplomatischen Sidekick und billigen Rohstofflieferanten betrachtet».
Historisch betrachtet hat Russland nie einen Mittelstand besessen. Die Zaren haben die Leibeigenschaft erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aufgehoben. Unter den Sowjets wurden die Arbeiter zwar mit ideologischem Lob überschüttet, im Alltag mussten sie jedoch froh sein, wenn sie knapp über die Runden kamen.
Dank eines hohen Ölpreises ist es Putin zu Beginn dieses Jahrhunderts gelungen, einen bescheidenen Mittelstand zu schaffen. Seine anfängliche Beliebtheit hing auch damit zusammen, dass er als Garant für eine entstehende Konsumgesellschaft galt.
Putin hat jedoch nie daran gedacht, den Ölsegen für die Schaffung eines nachhaltigen Wirtschaftsmodells für einen breiten Mittelstand zu verwenden. Stattdessen ist eine Mischung aus Mafia- und Oligarchenstaat entstanden. So hält Catherine Belton in ihrem hochgelobten Buch «Putins Netz» fest:
Ein allfälliger Krieg gegen die Ukraine würde auch den bescheidenen Wohlstand des russischen Mittelstandes gefährden. Doch Putin kann möglicherweise gar nicht anders. Er ist inzwischen in seinem eigenen System gefangen. Weil er seine politischen Kumpel desavouieren würde, kann er die Wirtschaft nicht reformieren. Der russische Präsident hat sein Land in eine Sackgasse geführt und ist selbst zum Kaiser ohne Kleider geworden.
Oder wie der «Economist» schreibt:
Wenn er nicht komplett durchgeknallt ist, wird er doch keinen Krieg anzetteln wollen. Er kann damit nichts gewinnen. Aber mit unsinnigen Forderungen, wie die Balten sollen aus der NATO austreten, ist es auch nicht möglich ernst genommen zu werden. Wenn er nun zuhause Kriegspropaganda betreibt, wie will er aus dieser Situation wieder heraus kommen, ohne Gesichtsverlust?
Jedenfalls ist es mal wieder wie zu besten Zeiten im kalten Krieg, dachte das wär vorbei.