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Krieg in der Ukraine: Putins Armee überrollt die Ostfront

In this photo taken from a video released by the Russian Defense Ministry on Thursday, Aug. 22, 2024, a Russian soldier fires from D-30 howitzer towards Ukrainian positions in an undisclosed location  ...
Ein russischer Soldat feuert auf ukrainische Stellungen.Bild: keystone
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Hat die Ukraine einen taktischen Fehler gemacht? Putins Armee rückt im Osten vor

Die russische Armee stösst im Osten der Ukraine immer schneller vor. Schon bald könnten Wladimir Putins Truppen vor der letzten grossen ukrainischen Verteidigungslinie in Donetsk stehen.
04.09.2024, 05:5404.09.2024, 07:27
Patrick Diekmann / t-online
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Ein Artikel von
t-online

Explosionen in der Nähe von Moskau. Als Reaktion auf die verheerenden russischen Drohnen- und Raketenangriffe auf die Ukraine in der vergangenen Woche griff die ukrainische Armee am Sonntag kritische Infrastruktur in Russland an. Die Drohnen flogen über russisches Staatsgebiet und stürzten sich auf ihre Ziele, vor allem Kraftwerke, eine Pipeline wurde getroffen. Auf den Videos, die seit dem Wochenende im Netz kursieren, ist allerdings nicht ersichtlich, wie gross der Schaden an der russischen Infrastruktur ist.

Die Angriffe sind die Vergeltung, die der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj angekündigt hatte. Doch die Anzahl der eingesetzten Drohnen war überschaubar. Russland dagegen beschiesst auch am Dienstag wieder U-Bahnhöfe, Supermärkte oder Sportstätten. Wladimir Putin nimmt zivile Opfer nicht nur in Kauf, sondern seine Armee greift sie gezielt an.

Diese russische Strategie ist nicht neu, aber sie wirkt sich zunehmend schrecklich auf die Lage in der Ukraine aus, in der die Menschen schon jetzt Angst vor einem Winter in Dunkelheit haben. Und abseits des russischen Raketenterrors sieht es auch militärisch für die Ukraine schlecht aus.

Russland scheint vor allem im Osten der Ukraine immer mehr auf der Siegerstrasse zu sein. Putins Truppen rücken immer schneller vor und kommen immer näher an die letzte grosse Verteidigungslinie im Donbass. Sollte die russische Armee diese überwinden, könnte die komplette Region für die Ukraine verloren sein.

Skepsis: War die Kursk-Offensive strategisch richtig?

Auch deshalb steht Selenskyj in der Ukraine innenpolitisch unter Druck. Es war ein riskantes Manöver, Anfang August eine Offensive in der russischen Region Kursk zu starten, anstatt die ukrainischen Verbände im Osten der Ukraine zu verstärken. Die genauen Zahlen sind unklar, aber in Südrussland sollen 10'000 bis 20'000 ukrainische Soldaten und schweres militärisches Gerät im Einsatz sein.

Diese Kräfte fehlen aktuell im Donbass. Und damit stellt sich die Frage: War es das aus ukrainischer Perspektive wert?

Experten sind bei der Bewertung der Kursk-Offensive noch zurückhaltend. Die Motive der Ukraine für den Angriff auf Russland liegen aber auf der Hand: Es würde vermutlich Jahre dauern, das eigene Staatsgebiet im Osten zu befreien. Zu stark sind mittlerweile die russischen Verteidigungsstellungen. Kursk dagegen wurde von Russland kaum geschützt. Das bot Kiew eine Chance für grosse Raumgewinne.

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Dieses Ziel wurde aus ukrainischer Perspektive erreicht. Etwa 1000 Quadratkilometer will die ukrainische Armee seit Anfang August erobert haben. Bislang konnte Russland diese Offensive zwar deutlich verlangsamen, aber eben noch nicht stoppen. Zum Vergleich: Russland soll im selben Zeitraum etwa 500 Quadratkilometer im Donbass erobert haben.

Trotzdem ist es natürlich für Selenskyj schwer vermittelbar, warum er Territorium in Donezk teilweise fast ohne Gegenwehr aufgibt. Bislang ist es der Ukraine immer gelungen, der russischen Armee bei Rückzugsgefechten schwere Verluste zuzufügen. Denn das ist die Logik des Abnutzungskriegs: Wer den längeren Atem hat, weniger schnell erschöpft ist, diese Seite wird wahrscheinlich den Krieg gewinnen. Der Ukraine kann es also egal sein, wo gekämpft wird – solange das Abnutzungsverhältnis passt.

Früherer NATO-General warnt vor Niederlage

Diese Logik passt auch auf Kursk: Russland muss nun das eigene Staatsgebiet unter Inkaufnahme wahrscheinlich hoher Verluste wieder zurückerobern. Der Militärexperte Gustav Gressel wies zudem im Gespräch mit dem ZDF darauf hin, dass der ukrainische Angriff auf Südrussland auch politische Gründe hat. Kiew wollte wahrscheinlich Handlungsfähigkeit demonstrieren, denn die Unterstützung aus den USA und Deutschland ist derzeit zögerlich.

Selenskyj wollte damit wahrscheinlich demonstrieren, dass westliche Investitionen sich lohnen und die Ukraine noch immer in der Lage ist, erfolgreiche Operationen durchzuführen. Der politische Kampf des ukrainischen Präsidenten ist momentan noch wichtiger als der gegenwärtige militärische Druck in Kursk oder Donezk.

Auch die Versorgungslage ist für die Ukraine weiterhin dramatisch. Selenskyj warb am Montag erneut dafür, westliche Waffen auch weiter im Landesinneren von Russland einsetzen zu dürfen. Denn diese westliche Fessel für die Ukraine besteht noch immer. Hinzu kommt, dass die ukrainische Armee modernere Waffensysteme aus dem Westen benötigen wird, um der Quantität an Soldaten und Material etwas entgegensetzen zu können.

Doch das ist aktuell nicht in Sicht. Die USA sind auf den Wahlkampf fokussiert, Frankreich hat noch keine neue Regierung, Deutschland halbiert seine Ukraine-Hilfe. Der ehemalige NATO-Oberkommandant Philip Breedlove betonte gegenüber dem US-Nachrichtenmagazin «Newsweek»: «Wenn wir so weitermachen wie bisher, wird die Ukraine letztendlich verlieren.» Die Ukraine kämpft demnach weiterhin an einigen militärischen und politischen Fronten.

Ukrainische Verteidigung im Donbass könnte zusammenbrechen

Kiew möchte in Kursk also schnelle militärische Erfolge erzielen. Doch Selenskyjs Schachzug könnte sich als Fehler erweisen: Denn überrollt Russland die ukrainische Armee im Osten, könnte das Vertrauen in die Verteidigungsfähigkeit der Ukraine weiter erschüttert werden.

Ein gutes Beispiel dafür, was aktuell im Osten des Landes passiert, ist die russische Einnahme der Bergbaustadt Nowohrodiwka in der Oblast Donezk. Die Stadt wurde in wenigen Tagen komplett erobert, obwohl Gebäude aus Beton oder ein Bergwerk eine Verteidigung möglich gemacht hätten. Aber die ukrainische Armee verteidigte hier kaum, zog sich zurück, während russische Verbände vor allem mit Infanterie und Schützenpanzern die Stadt unter ihre Kontrolle brachten. Auf Drohnenbildern der russischen Armee sind kaum Zerstörungen zu sehen.

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Die Ukraine scheint die russische Armee in diesem Frontabschnitt derzeit nicht mehr in Rückzugsgefechte verwickeln zu können. Möglich ist, dass die ukrainische Armee auf ihre gut ausgebaute Verteidigungslinie bei Prokowsk vertraut. Das Problem: Es ist die letzte verbliebene ukrainische Linie in Donezk. Sollte hier Russland ein Durchbruch gelingen, würde Putins Armee wahrscheinlich den kompletten Donbass unter ihre Kontrolle bringen.

Die gute Nachricht aus Perspektive Kiews ist allerdings, dass Russland dafür noch Jahre brauchen könnte. Trotzdem steht Selenskyj innenpolitisch unter Druck. Während Russland Truppen nach Kursk verlegt, könnte auch die Ukraine zunehmend gezwungen sein, die Front im Donbass zu stärken – es ist ein ständiges Schachspiel, bei dem Kiew ein strategisches Ziel der Kursk-Offensive bislang nicht erreicht hat: die Schwächung der russischen Angriffsintensität in Donezk.

Russland zeigt keine Verhandlungsbereitschaft

Im Gegenteil. Putin scheint gewillt zu sein, einen Teil seines Territoriums zeitweise aufzugeben, für einen Sieg im Osten der Ukraine. Auch im Informationsraum tobt zwischen Kiew und Moskau gegenwärtig ein wilder Kampf um die Deutungshoheit. Selenskyj betont die ukrainischen Erfolge in der Region Kursk, Putin lobt dagegen russische Gewinne im Donbass. Die Armee mache in der Ostukraine Fortschritte in einem «Tempo, wie wir es lange nicht mehr hatten», erklärte der russische Präsident am Montag in der Mongolei.

Auch der Kreml steht unter Druck, schliesslich kündigte Putin auch am Montag wieder an, die ukrainischen «Banditen» aus Russland vertreiben zu wollen. Aber damit scheint sich Moskau Zeit zu lassen, man vertraut darauf, dass die ukrainische Offensive nun weitestgehend gestoppt wurde. Auch das ist wiederum eine Taktik mit hohem Risiko, denn je länger sich ukrainische Truppen in der Region festsetzen, desto schwieriger wird es für Russland, diese Gebiete zurückzuerobern.

epa11580201 Russian President Vladimir Putin visits the Tubten Shedrub Ling datsan in Kyzyl, Republic of Tuva, Russia, 02 September 2024. EPA/KRISTINA KORMILITSYNA/SPUTNIK/KREMLIN / POOL MANDATORY CRE ...
Wladimir Putin besucht die Mongolei: Bisher zeigt er keine Verhandlungsbereitschaft.Bild: keystone

Laut Selenskyj ist es ein weiteres Ziel der Kursk-Offensive, Putin an den Verhandlungstisch zu zwingen. Auch das klappt bislang offensichtlich nicht. Der Kreml lässt in diesen Tagen keinen Zweifel daran, dass Russland aktuell Verhandlungen ablehnt. Putin sagte noch im März: «Jetzt zu verhandeln, nur weil ihnen die Munition ausgeht, wäre irgendwie lächerlich von unserer Seite.» Kremlsprecher Dmitri betonte wiederholt seine Skepsis, dass auch Donald Trump den Krieg nicht beenden könne.

Das zeigt vor allem eines: Russland setzt auf Sieg. In der Psychologie hat man eine Begrifflichkeit für ein solches Verhalten: eskalierendes Commitment. Es beschreibt einen Geisteszustand, in dem ein Mensch schon sehr viel in eine Sache investiert hat – Zeit, Geld, Prestige oder eben Menschenleben. In dem Zustand neigen Menschen dazu, an einer Sache festzuhalten, um diese Verluste wettzumachen.

In diesem Bild ist Putin ein Spieler, der im Casino schon sehr viel verloren hat und trotzdem weitermacht. Ob er am Ende gewinnt, die Ukraine unter seine Kontrolle bringt, liegt aber vor allem in den Händen des Westens. Darüber können auch die aktuellen Entwicklungen nicht hinwegtäuschen.

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Journalistin fragte Selenskyj nach der Kriegsmüdigkeit in der Ukraine – nun antwortet dieser Soldat
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85 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Eidg. dipl. Kommentarspalter
04.09.2024 06:07registriert Dezember 2015
Kleiner Reminder

Die Schweiz könnte folgendes tun:
- Material und Spezialisten für die Reparatur des Stromnetzes schicken.
- Russische Gelder auf Schweizer Bankkonten als direkte Vergeltungsmassnahme von russischen Angriffen gegen zivile Ziele einfrieren. Jeder Angriff, der zivile Menschenleben fordert, führt zum Einfrieren einer Milliarde russischer Gelder.
- Senden von einem weiteren Minenräumgerät so alle paar Jahre (ja nicht mehr, wir wollen ja Russland nicht verärgern)
- Neutralität anders definieren als 1939-1945. Die geopolitische Situation ist eine komplett andere als damals.
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Callao
04.09.2024 06:26registriert April 2020
Ich wünsche Putin und seinen Kumpanen das, was einem Berufskollegen von ihm im April 45 in Berlin widerfahren ist. Nicht mehr und nicht weniger.
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Pbel
04.09.2024 06:59registriert April 2017
Ich empfehle die Ausführungen von Anders Puck Nielsen, der unaufgeregt einordnet und bisher die Situation jeweils gut und richtig erfasst hatte:
Und nein, die Ukraine ist nicht kurz vor dem Verlieren. Zudem gehen gemäss Satellitenbildern-Zählungen 2025 Russland wichtige Waffensysteme aus (siehe Covert Cabal YouTube Kanal).
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85
    Heute entscheidet sich die Zukunft der Weltwirtschaft
    Donald Trump will den globalen Handel neu organisieren.

    Alle starren darauf, wie das Kaninchen auf die Schlange, keiner weiss, was uns erwartet: Donald Trumps «liberation day» hält Manager, Ökonomen und Investoren gleichermassen in Atem. Die Rede ist von «reziproken Zöllen», will heissen, die USA wollen jedem Land die gleichen Zölle aufbürden, unter denen die eigenen Exporte zu leiden haben. Oder auch nicht: Vielleicht werden auch allen Ländern pauschal 20 Prozent Zölle aufgebrummt.

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