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Warum Wladimir Putin die Ukraine angreifen will

Russian President Vladimir Putin walks holding a rifle in the Tuva region of Siberia in this Wednesday, Aug. 15, 2007 photo. He rides horses. He fishes half-naked in icy rivers. He's a 54-year-ol ...
Der russische Präsident auf der Jagd in Sibirien.Bild: AP RIA NOVOSTI KREMLIN
Analyse

Warum Wladimir Putin die Ukraine angreifen will

Der russische Präsident hat 100’000 Soldaten an die Grenze geschickt. Riskiert der Präsident gar einen Krieg?
25.11.2021, 08:5826.11.2021, 06:11
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Im September hat Wladimir Putin die Söldner der Wagner-Gruppe nach Mali entsandt und damit die Franzosen geärgert. Im Oktober hat er die diplomatischen Beziehungen zur Nato abgebrochen, und nun hat er 100’000 Soldaten an die Grenze zur Ukraine geschickt. Gleichzeitig unterstützt Putin seinen weissrussischen Amtskollegen Alexander Lukaschenko bei dessen perfidem Spiel mit Flüchtlingen. Was führt er im Schilde?

Für Russland-Experte Kadri Liik sind diese Manöver primär Putins Versuch, einen angemessenen Platz für Russland in einer Welt zu finden, die nicht mehr vom Kalten Krieg dominiert wird. Er schreibt in der «New York Times»:

«In der Welt von gestern war alles anders. Russland hatte bloss einen Erzfeind und wusste, was und wie es dies erreichen wollte. (…). Doch nun ist die Welt für Russland multipolar geworden. Und das ist alles andere als angenehm.»

Doch vielleicht ist es auch mehr. Vor allem die Ereignisse an der Grenze zur Ukraine bereiten den westlichen Militärexperten Bauchschmerzen. Schon im Frühling haben dort russische Truppen Manöver durchgeführt, die man auch als möglichen Angriff hätte interpretieren können. Nun sind erneut Truppen aufmarschiert. «Die militärischen Aktivitäten in den vergangenen Monaten übersteigen die normalen Übungen bei weitem», stellen dazu die beiden Politologen Michael Kimmage und Michael Koeman im Magazin «Foreign Affairs» fest.

In einem längeren Essay hat Putin zudem jüngst behauptet, die Ukraine war und sei für immer ein Teil Russlands. Deshalb gehen Kimmage/Koeman gar noch einen Schritt weiter: «Das Szenario eines grösseren Krieges ist total plausibel geworden», stellen sie fest.

Für Putin haben sich die Dinge in der Ukraine nicht nach seinem Gusto entwickelt. Präsident Wolodymyr Selenskj hat sich von Moskau ab– und dem Westen zugewandt. Schlimmer noch: Die Ukraine hat ihre Partnerschaft mit den USA und der Nato noch verstärkt. Das lässt im Kreml alle Alarmglocken läuten.

epa09413661 Ukrainians burn flares and smoke grenades during a rally with the slogan 'No to capitulation!' near President Volodymyr Zelensky's home in Kiev, Ukraine, 14 August 2021 prio ...
Demonstration in Kiew: «Keine Kapitulation gegenüber Moskau», skandieren sie. Bild: keystone

Der Zeitpunkt für einen Konflikt mit der Ukraine scheint günstig zu sein. Präsident Selenskj befindet sich in einem Umfragetief. Es ist ihm nicht gelungen, die Macht der Oligarchen zu brechen und die grassierende Korruption einzudämmen.

Gleichzeitig hat die aktuelle Energiekrise die russische Stellung gestärkt. Dank höheren Preisen für Öl und Gas sprudeln nicht nur die Einnahmen. Die Abhängigkeit von Westeuropa wird einmal mehr schmerzlich sichtbar.

Die USA sind derweil vor allem mit China und sich selbst beschäftigt. Deshalb ist gemäss Kimmage/Koemann ein russischer Angriff zu einer realistischen Option geworden. Sie schreiben:

«Die russische Führung geht nicht davon aus, dass die Anwendung von Gewalt ein Kinderspiel und ohne Kosten sein werde – aber für sie befindet sich die Ukraine auf einem für sie nicht akzeptablen Weg, und sie haben kaum Möglichkeiten, dies mit den bestehenden Mitteln zu ändern. Deshalb könnte sie zum Schluss gekommen sein, dass eine militärische Operation jetzt weniger kostspielig ist als eine in der Zukunft.»

Ebenfalls in «Foreign Affairs» weisen die Politologen Michael Koeman und Andrea Kendall-Taylor daraufhin, dass der Westen dazu neigt, Russland zu unterschätzen. Der verstorbene Senator John McCain sprach einst verächtlich von einer «Tankstelle, die vorgibt, ein Land zu sein». Ex-Präsident Barack Obama tat Russland gar als «Regionalmacht» ab.

Das ist eine gefährliche Fehleinschätzung. «Einfach gesagt, Washington kann es sich nicht erlauben, sich allein auf China zu konzentrieren und Russland auszusitzen», warnen Koeman/Kendall-Taylor.

epa09586637 The prototype of its fifth generation military aircraft, a Su-75 dry checkmate which is unveiled and displayed at Russian Pavilion, during the exhibition of the Dubai Airshow 2021 at the D ...
Prototyp eines Su-75, ein Militärjet der 5. Generation.Bild: keystone

Der falsche Eindruck wird verstärkt durch die Tatsache, dass Russlands Wirtschaftszahlen in Dollar ausgedrückt werden. Derzeit beträgt das russische Bruttoinlandsprodukt in US-Währung 1,5 Billionen Dollar und ist damit vergleichbar mit dem italienischen. Die tatsächliche Kaufkraft ist jedoch fast dreimal höher. Sie beträgt 4,1 Billionen und macht Russland damit zur zweitgrössten Volkswirtschaft in Europa.

Dasselbe trifft auch für die Militärausgaben zu. Offiziell beträgt das jährliche Budget 58 Milliarden Dollar. Umgemünzt auf die Kaufkraft dürften es jedoch zwischen 150 und 180 Milliarden sein, und dieses Geld wird mehrheitlich für modernste Waffen eingesetzt.

Russland war und ist immer noch eine militärische Grossmacht. Koeman/Kendall-Taylor stellen fest:

«Der militärisch-industrielle Komplex Russlands hat Waffen der nächsten Generation entwickelt wie Überschall-Raketen, Laser-Waffen, elektronische Kriegssysteme, modernste Unterseeboote, integrierte Luftabwehr- und Satellitenabwehrsysteme.»

Die russische Bevölkerung wird zwar bis 2050 voraussichtlich um rund zehn Prozent schrumpfen. «Doch das Land steht keineswegs vor einem demografischen Kollaps», warnen Koeman/Kendall-Taylor. «Russland hat sich von der demografischen Krise der Neunzigerjahre erholt.»

Der Westen und vor allem die USA richten ihre Aufmerksamkeit hauptsächlich auf China. Ein möglicherweise fataler Irrtum. Nochmals Koeman/Kendall-Taylor:

«Die Vereinigten Staaten sollten Russland nicht als eine Macht im Niedergang betrachten, sondern als eine, die nach wie vor die nationalen Interessen der USA bedroht, zumindest in den kommenden 20 Jahren.»

Pessimisten warnen gar vor einem Albtraum-Szenario. Es sieht wie folgt aus: China und Russland verbünden sich. Die Chinesen überfallen Taiwan und die Russen die Ukraine. Die zerstrittenen Amerikaner und das schwache Europa haben nicht die Kraft, sie daran zu hindern und geben sich mit verbalen Protesten und nutzlosen Sanktionen zufrieden.

So abwegig ist dieses Szenario nicht. Soeben haben sich China und Russland eine gegenseitige Partnerschaft versichert, die «härter als ein Felsen» sei.

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174 Kommentare
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PaLve!
25.11.2021 09:17registriert Juni 2017
Das Ganze wirkt beim bestem Willen nun Mal nicht beruhigend.
Ich selber denke jedoch, dass es Putin eher darum geht, den Konflikt in der Ostukraine am brodeln zu erhalten, damit die Ukraine nicht in die Nato aufgenommen werden kann und die ukrainische Regierung kann durch den Konflikt auf westliche Unterstützung zählen. Um das Schicksal der normalen Menschen scheint sich niemand zu kümmern.
Eine Eroberung der ganzen Ukraine, wäre aber für Russland wahrscheinlich gar nicht machbar, da schon nur die Krim viel mehr als erwartet gekostet hat.
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Joe Hill
25.11.2021 10:12registriert Dezember 2015
Weil Russland sich die eh schon pro-russische Ostukraine auf der Linie Charkow, Dnipro, Cherson einverleiben könnte ohne militärische Konsequenzen? Europa und spuckt gerne grosse Töne Richtung Osten aber wirklich für Kiew verrecken will dann doch niemand.
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Mangosorbet
25.11.2021 09:50registriert Juli 2020
Die selbstgefälligen und in Teilen zerstrittenen Europäer stellen sicherheitspolitisch keine Herausforderung dar. Die Europäer sind zu bequem geworden und sitzen auf ihren Pfründen. Wohl wissend, aber in weiten Teilen ignorierend, dass ihr Wohlstand von Ländern wie Russland und China abhängt.
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