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Korruption in der Ukraine: Das bringt Selenskyj in Bedrängnis

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Mit einer solchen innenpolitischen Krise wie diese Woche wurde der ukrainische Präsident jedoch noch nie konfrontiert.Bild: keystone
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Korruption in der Ukraine: Ein Skandal, der selbst Selenskyj in Bedrängnis bringt

Ein enger Vertrauter von Wolodymyr Selenskyj soll ein Korruptionssystem im ukrainischen Energiesektor angeführt haben. Die Vorwürfe kommen zu einem ungünstigen Zeitpunkt.
13.11.2025, 12:00
Denis Trubetskoy / Zeit Online
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Zeit Online

Dass Wolodymyr Selenskyj grosse Krisen meistern kann, hat er bereits öfter bewiesen. Mit einer solchen innenpolitischen Krise wie diese Woche wurde der ukrainische Präsident jedoch noch nie konfrontiert.

Das Nationale Antikorruptionsbüro (Nabu) deckte ein gross angelegtes Korruptionsschema im ukrainischen Energiesektor auf. An dessen Spitze: Tymur Minditsch, ein enger Vertrauter Selenskyjs und Miteigentümer seiner ehemaligen Fernsehproduktionsfirma Kwartal 95.

So soll der Geschäftsmann Minditsch zusammen mit dem heutigen Justiz- und früheren Energieminister Herman Haluschtschenko einen enormen Einfluss auf das Unternehmen Energoatom ausgeübt haben, das für ukrainische Kernkraftwerke zuständig ist. Den Vorwürfen nach hätten die Lieferanten von Energoatom zehn bis 15 Prozent des Vertragswerts als Schmiergeld zahlen müssen, um ihre Aufträge nicht zu verlieren. Besonders sensibel: Dabei soll es auch um Aufträge für den Bau von Schutzräumen der Kraftwerksinfrastruktur gegangen sein. Insgesamt soll die Gruppe so 100 Millionen Euro an Schmiergeld gewaschen haben.

Ausgerechnet vor dem Winter

Die Vorwürfe kommen zu einem brisanten Zeitpunkt: Der Ukraine steht ein besonders schwerer Winter bevor, womöglich der schwerste bisher in diesem Krieg. Seit Anfang Oktober beschiesst Russland wieder systematisch ukrainische Energieanlagen. In den meisten Regionen des Landes wird deshalb regelmässig der Strom abgeschaltet, in der Hauptstadt Kyjiw müssen die Menschen rund die Hälfte des Tages ohne Strom auskommen. Dass Machenschaften im Energiebereich ausgerechnet jetzt bekannt werden, hat gesellschaftliche Sprengkraft. 

Der Fall von Tymur Minditsch scheint bestens dokumentiert zu sein. 15 Monate lang hat das Nabu ermittelt, rund 1'000 Stunden Gespräche wurden abgehört – Gerüchten zufolge teilweise aus der Nähe seiner Wohnung. Minditsch befindet sich nicht mehr in der Ukraine, sondern hat das Land kurz vor der Bekanntgabe der Vorwürfe verlassen und soll sich nun in Israel aufhalten. Er durfte als Mann im wehrfähigen Alter ausreisen, weil er drei Kinder hat. Der Zeitpunkt seiner Ausreise deutet jedoch darauf hin, dass er möglicherweise vorgewarnt wurde.

Das Machtwort liess zwei Tage auf sich warten

Für Selenskyj war der Fall Minditsch von Anfang an ein schwerer Schlag. Kaum jemand jenseits des einflussreichen Stabschefs Andrij Jermak hatte in seinem System so viel Macht. In der aktuellen ukrainischen Regierung gelten gleich vier Minister als eine Art «Quote Minditschs». Auf den vom Nabu veröffentlichten Mitschnitten geht es teilweise um die Verteilung der Posten bei der letzten Regierungsumbildung im Sommer. Ausserdem könnte Minditsch auch ein einflussreicher Hintermann in der ukrainischen Rüstungsbranche sein. Das mit ihm in Verbindung gebrachte Unternehmen Fire Point produziert Langstreckendrohnen und den Flamingo-Marschflugkörper.

Im Sommer hatte Selenskyj versucht, die Befugnisse der Antikorruptionsorgane einzuschränken. Damit hat er sich in die Defensive gebracht. Hätte er Minditsch und beschuldigte Minister in Schutz genommen, hätte das in der Ukraine wahrlich keiner verstanden – auch seine treuen Unterstützer nicht. So hat der ukrainische Präsident noch in seiner Abendansprache am Montag die Korruptionsermittlungen grundsätzlich begrüsst. Danach reiste er nach Cherson und liess sich Zeit bis Mittwochabend, um ein Machtwort auszusprechen.

«Die Lage in der Ukraine ist derzeit für alle schwierig», hiess es dann vom ukrainischen Präsidenten. Alle würden unter Stromausfällen, russischem Beschuss und schmerzhaften Verlusten leiden. «Es ist völlig abnormal, dass es bei all dem noch Machenschaften im Energiesektor gibt», sagte Selenskyj. Justizminister Haluschtschenko sowie seine Nachfolgerin im Energieministerium, Switlana Hryntschuk, reichten daraufhin noch am Mittwoch ihre Rücktrittsschreiben ein. Nächste Woche soll das ukrainische Parlament über deren Entlassung formell entscheiden. Zudem werden gegen Tymur Minditsch und einen weiteren Beschuldigten durch den Nationalen Sicherheitsrat persönliche Sanktionen verhängt.

Die Kritik an Selenskyj wächst

Im ersten Schritt gelingt es Selenskyj damit, die Krise einzudämmen und das Vertrauen vor dem herausfordernden Winter nicht zu verspielen. In Umfragen lagen seine Vertrauenswerte zuletzt stabil bei rund 60 Prozent – ein guter Wert für jeden ukrainischen Präsidenten, auch im Krieg. Grössere politische Umbrüche oder gar wieder Strassenproteste sind zumindest zunächst nicht zu befürchten. 

Der bittere Beigeschmack wird allerdings bleiben. Zum einen, weil der kommende Winter der Bevölkerung ohnehin alles abverlangen wird – und deshalb 100 Millionen Euro an veruntreuten Geldern im Energiesektor kaum in Vergessenheit geraten werden. 

Jetzt auf

Und zum anderen, weil seine Innenpolitik sowie seine personellen Entscheidungen immer wieder Fragen aufwerfen – im Kontrast zu seinem Auftreten auf internationaler Bühne. Bleibt seine innenpolitische Linie unverändert, drohen weitere Krisen und Skandale. 

Da hilft es auch nicht, dass die Antikorruptionsorgane es in der Ukraine offenbar selbst in Kriegszeiten und unter enormem Druck schaffen, ihre Arbeit zu leisten. Und einen Skandal aufzudecken, der selbst den Präsidenten unter Rechtfertigungsdruck stellt.  

Dieser Artikel wurde zuerst auf Zeit Online veröffentlicht. watson hat eventuell Überschriften und Zwischenüberschriften verändert. Hier geht’s zum Original.

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