Selbstverständlich hat Donald Trump den Entscheid des Supreme Court als persönlichen Triumph verbucht. Es sei der «grösste Erfolg der LIFE-Generation», liess der Ex-Präsident verlauten, und dieser sei möglich geworden, weil es ihm gelungen sei, drei konservative Richter in das höchste Gremium zu hieven. Damit nicht genug. Gegenüber Fox News teilte Trump gar mit: «Gott hat diese Entscheidung getroffen.»
Im privaten Kreis soll sich Trump allerdings ganz anders geäussert haben. «Er ist überzeugt, dass dieser Entscheid ihm künftig nicht helfen wird», zitiert die «Washington Post» einen seiner Berater. Er hätte es lieber, wenn die Inflation, die Immigration und Bidens verunglückter Rückzug aus Afghanistan die dominierenden Themen wären.
Für Trump ist der Entscheid der obersten Richter tatsächlich ein zwiespältiges Geschenk. Zum einen kaufen ihm selbst die Evangelikalen die Ich-bin-ein-gläubiger-Christ-Nummer nicht ab. Zu offensichtlich steht sein privates Leben mit den christlichen Werten im Widerspruch.
Trump ist auch nicht wegen der Evangelikalen ins Weisse Haus gekommen. «In den Vorwahlen der GOP 2016 hat Trump bloss 32 Prozent der Wähler gewonnen, die angeben, regelmässig in die Kirche zu gehen», stellte Nate Hochman kürzlich in einem Gastkommentar in der «New York Times» fest. Hochman ist Partner des konservativen Magazins «National Review» und gehört zur neuen Generation der Vordenker der Republikaner.
Die Grand Old Party (GOP) war traditionellerweise eine Interessengruppe mit zwei dominierenden Fraktionen: Einerseits gab es den Country Club, die wohlhabenden Geschäftsleute, welche die Partei primär als Vehikel sahen, die Steuern zu senken. Daneben gab es die Evangelikalen. Für sie hat die GOP tatsächlich primär eine Aufgabe: «Roe v. Wade» wieder rückgängig zu machen.
Trump hat diese Partei umgemodelt. Der Einfluss der regelmässigen Kirchgänger ist auch in den USA massiv rückläufig. Gemäss dem Pew Research Center ist ihr Anteil an der Bevölkerung von 75 Prozent im Jahr 2011 auf 63 Prozent im Jahr 2021 gesunken. «Die GOP ist immun gegen diesen Trend», stellt Hochman fest. «Der Anteil der Republikaner, die einer Kirche angehören, ist von 75 Prozent im Jahr 2010 auf 65 Prozent im Jahre 2020 gesunken.»
Die Trump-Basis besteht nicht aus gläubigen Evangelikalen. Sie setzt sich vielmehr zusammen aus den «Middle American radicals» (M.A.R.s). Es handelt sich dabei um Angehörige der unteren Mittelschicht, wenig gebildet, welche einen Hass auf die Eliten verspüren. «Die M.A.R.s teilen die christlichen Werte der Evangelikalen nicht, weder in ihren politischen Überzeugungen noch in ihrem Lebensstil», so Hochman. Als typisches Beispiel nennt er die Tatsache, dass 55 Prozent der Republikaner heute die Homo-Ehe befürworten.
Wichtig für die M.A.R.s sind härtere Immigrationsgesetze, vor allem gegen Muslime. Hochman stellt auch fest, dass die M.A.R.s eine Art pervertierten Klassenkampf wiederentdeckt haben. «Die Kulturkrieger von heute denken in deutlich marxistischen Kategorien», stellt er fest. «Sie betrachten die Welt als einen Klassenkampf zwischen einer proletarischen Basis von Traditionalisten und einer mächtigen öffentlichen Verwaltung, welche dem amerikanischen Lebensstil feindlich gesinnt ist.»
Geradezu archetypisch verkörpert Tucker Carlson das Ideal der M.A.R.s. Der neue Star bei Fox News erwähnt religiöse Themen in seiner Sendung kaum, und wenn, nur so nebenbei. Dafür schiesst er täglich gegen Big Tech und gegen die multinationalen Konzerne, gegen die Globalisten, welche die Interessen der gewöhnlichen Amerikaner vernachlässigen würden. Bei Tucker ist der pervertierte Klassenkampf der M.A.R.s in Reinkultur zu beobachten.
Ein weiteres M.A.R.-Idol ist Ron DeSantis. Der Gouverneur von Florida gilt als aussichtsreichster Nachfolger von Donald Trump, sollte dieser dereinst die politische Bühne verlassen. Der Ex-Präsident beansprucht zwar, DeSantis entdeckt und gefördert zu haben. Inzwischen sollen sich die beiden jedoch spinnefeind sein und Trump regelmässig einen Wutanfall kriegen, wenn der Gouverneur in einer Umfrage bessere Werte als er erhält. (Was immer häufiger geschieht.)
DeSantis hat einen libertären Hintergrund und ist daher weniger klassenkämpferisch unterwegs als Carlson. Doch auch er legt sich mit Big Business an, jüngst mit der Disney Corp., die er als «Woke-company» verunglimpft, weil sie es gewagt hat, ein Gesetz zu kritisieren, welches verbietet, in der Primarschule über Homosexualität aufzuklären.
Der Kulturkrieg ist auch den M.A.R.s wichtig, aber er hat andere Inhalte bekommen. Der christliche Glaube und Antikommunismus haben an Bedeutung verloren. Die Rassen- und vor allem Fragen der Sexualität sind in den Vordergrund gerückt. Demokraten werden immer häufiger nicht mehr als Sozialisten beschimpft, sondern als Pädophile, welche unschuldige Kinder zu sexuell Perversen erziehen wollen.
«The Handmaid’s Tale» wird gerne als dystopische Zukunft benutzt, wenn es darum geht, den Entscheid des Supreme Court zu kritisieren. Margaret Atwood schildert darin eine Welt, in der christliche Fundamentalisten die Macht übernommen und die Menschen zurück ins Mittelalter geführt haben. Angesichts der Tatsache, dass sich die Evangelikalen auf dem Rückzug befinden, könnte sich dies als Fehleinschätzung herausstellen.
Für die M.A.R.s sind Bibel und Jesus nur noch bedingt wichtig. Für Sam Francis, einen inzwischen verstorbenen amerikanischen Neo-Faschisten und bedeutenden Ideologen der GOP, war das Christentum gar verdächtig. Ganz im Sinne von Marx sah er in der Religion «Opium fürs Volk» und ganz im Sinne von Friedrich Nietzsche bezeichnete er das Christentum als «Religion für Sklaven, Schwache und Untermenschen».
Die konservativen Richter des Supreme Court haben damit möglicherweise einen Pyrrhussieg errungen. Der neuen Basis der GOP ist die Abtreibungsfrage gar nicht mehr so wichtig. Die M.A.R.s wollen zwar auch zurück in die Vergangenheit – aber nicht ins Mittelalter, sondern in die Dreissigerjahre des letzten Jahrhunderts.