Damit hat wohl nicht einmal Viktor Orban gerechnet. Seine rechtsnationale Fidesz-Partei hat die Parlamentswahl in Ungarn am Sonntag noch deutlicher gewonnen als erwartet. Erstmals seit Orbans Rückkehr an die Macht vor zwölf Jahren hat sie mehr als 50 Prozent der Stimmen geholt und ihre Zweidrittelmehrheit sogar noch ausgebaut.
Der Ministerpräsident kann weiter schalten und walten, wie er will. Seinen Triumph kostete Orban entsprechend aus und garnierte seine Ansprache an der Siegesfeier in Budapest mit Spitzen gegen die Europäische Union und den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj. Dieser hatte Orban in seiner Videoansprache am EU-Gipfel persönlich attackiert.
«Wissen Sie, Viktor, was in Mariupol passiert? Ich möchte ein für alle Mal offen sein, Sie sollten selbst entscheiden, für wen Sie sind», sagte Selenskyj. Es war eine Anspielung auf Orbans zwiespältige Rolle im Ukraine-Krieg. Er trägt die Russland-Sanktionen mit und hat die Grenzen für Flüchtlinge geöffnet, nicht aber für Waffenlieferungen an die Ukraine.
Seine Nähe zu Wladimir Putin (Ungarn ist stärker von russischem Öl und Gas abhängig als andere Länder) sorgt in der EU seit Jahren für Irritation. Im Wahlkampf spielte Orban sie als Trumpf aus. Er werde Ungarn aus dem Krieg heraushalten und günstige Energiepreise sicherstellen. Damit konnte er von Missständen wie der grassierenden Korruption ablenken.
Daneben gibt es weitere Gründe für den unerwartet klaren Wahlsieg:
In zwölf Jahren an der Macht hat Viktor Orban den Staat auf seine «illiberale Demokratie» zugeschnitten. Mit weniger als 50 Prozent der Stimmen kann Fidesz eine Zweidrittelmehrheit im Parlament erobern. An den Schaltstellen der Macht hat er Leute seines Vertrauens platziert. Der Staatspräsident – ab Mai eine Präsidentin – ist nicht mehr als eine Marionette.
Die Wirtschaft wird ebenfalls von seinen Günstlingen – Kritiker sprechen von Orbans Oligarchen – dominiert. Sie kontrollieren alle grossen Medien, was die Opposition im Wahlkampf zusätzlich behindert. Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) hat die ungarischen Wahlen schon 2018 als «frei, aber nicht fair» bezeichnet.
Selbst bei einem Wahlsieg wäre es der Opposition schwer gefallen, das System Orban zurückzubauen. Doch sie stand sich auch selbst im Weg. Die Idee, alle grösseren Parteien von links bis rechts zu einem Anti-Fidesz-Bündnis zu vereinen, war auf den ersten Blick bestechend (in Israel hat sie funktioniert). Doch es blieb eine wackelige Allianz.
Ebenfalls nur vordergründig eine gute Idee war die Nomination von Peter Marki-Zay als Spitzenkandidat. Als weltoffener Konservativer sollte er für Orbans Anhänger wählbar sein, doch der Provinz-Bürgermeister überzeugte nicht. Und mit dem Angriff auf die Ukraine rückten Themen wie Korruption und Misswirtschaft vollends in den Hintergrund.
Zu Orbans Erfolgsmodell gehören auch grosszügige Zuwendungen: Personen unter 25 Jahren bezahlen ab diesem Jahr keine Einkommensteuer, Familien bekamen einen Steuerrabatt und Pensionierte eine 13. Monatsrente. Ein erklärtes Ziel von Viktor Orbans Sozialpolitik ist die Anhebung der tiefen Geburtenrate, mit bislang überschaubarem Erfolg.
Ausserdem scheint der 58-Jährige als Regierungschef eines EU- und Nato-Mitgliedes ein Gespür dafür zu haben, wie weit er gehen kann. Ungarn ist nicht Russland. Es gibt keine politischen Gefangenen, und auch wenn Orban gegen die LGBTQ-Community poltert, kann sie zumindest in den grösseren Städten weitgehend unbehelligt leben.
Ungarn ist ein kleines Land mit weniger als zehn Millionen Einwohnern. Auch das setzt den Möglichkeiten von Viktor Orban Grenzen. Und einiges deutet darauf hin, dass es für ihn in den nächsten Jahren trotz seines grossen Wahlerfolgs schwierig werden dürfte. Innerhalb der EU und der Nato sei Ungarn «zunehmend isoliert», berichtete die BBC.
Bislang konnte sich Orban auf die Visegrad-Gruppe verlassen, ein Bündnis mit Polen, der Slowakei und Tschechien. Vor allem Polen, das ebenfalls von einer nationalkonservativen Partei regiert wird, verwahrte sich gemeinsam mit Ungarn gegen einen Verteilschlüssel für Flüchtlinge und Kritik aus Brüssel wegen der Demontage der Rechtsstaatlichkeit.
Nun aber steht Visegrad vor dem Aus, wegen Orbans Schlingerkurs im Ukraine-Krieg. Ein Treffen der Verteidigungsminister letzte Woche in Budapest wurde abgesagt. Sie bedaure, «dass das billige russische Öl für ungarische Politiker wichtiger ist als ukrainisches Blut», meinte die tschechische Verteidigungsministerin Jana Cernochova.
Der polnische Staatspräsident Andrzej Duda erklärte, es sei schwer, Orbans Haltung gegenüber der Ukraine zu verstehen. Denn bei allen Übereinstimmungen gibt es zwischen der polnischen und der ungarischen Regierung eine grundlegende Differenz: Die polnische Regierungspartei PiS ist russlandfeindlich, aus historischen und persönlichen Gründen.
Kaum ein Land in der EU fährt einen härteren Kurs gegen das Putin-Regime als Polen. Die Regierung in Warschau hat angedeutet, EU-Sanktionen gegen Ungarn in Zukunft nicht mehr mit dem Veto zu blockieren. Schon heute hält die EU-Kommission sieben Milliarden Euro an Corona-Hilfsgeldern wegen Ungarns Verstössen gegen rechtsstaatliche Prinzipien zurück.
Falls die polnische Regierung ihre Drohung wahr macht, könnte auch der neue Rechtsstaats-Mechanismus bei der Auszahlung von Kohäsionsgeldern zur Anwendung kommen. Das dürfte die Regierung Orban in Schwierigkeiten bringen. Sie braucht das Geld, um ihre Wohltaten zu finanzieren, und wegen der Inflation, die rund 8,3 Prozent beträgt.
Viktor Orban schimpft gerne und oft über den europäischen «Superstaat», doch er braucht die Europäische Union weit mehr als umgekehrt. Das gilt neben den Geldtransfers auch für den gemeinsamen Markt, unter anderem wegen den deutschen Autoherstellern, die der Ministerpräsident mit Steuererleichterungen und billigen Arbeitskräften angelockt hat.
Bei Viktor Orbans Balanceakt zwischen West und Ost droht Absturzgefahr. Er dürfte auf ein baldiges Ende des Ukraine-Kriegs spekulieren. Falls dies nicht passiert und die Brücken nach Moskau im wahrsten Sinn definitiv zerstört werden, halten es Ungarn-Kenner für möglich, dass sich der Regierungschef vermehrt dem Westen zuwenden wird.
Es wäre eine gewagte Kehrtwende, aber einem Viktor Orban traut man sie zu. Der heutige Verteidiger christlich-konservativer Wertvorstellungen war in seinen jungen Jahren ein antiklerikaler Liberaler. Es wäre für ihn eine Rückkehr zu seinen Wurzeln.