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Wahlwunder ohne Happy End: Frankreichs ungewisse Zukunft

Far-right National Rally party leader Marine Le Pen answers reporters after the second round of the legislative election, Sunday, July 7, 2024, at the party election night headquarters in Paris. A coa ...
Marine Le Pen nach der unerwarteten Wahlniederlage.Bild: keystone
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Erleichterung über die Le-Pen-Bremse? Nein, Frankreich ist am Rand einer Nervenkrise

Frankreich kommt um die Rechtspopulisten herum, handelt sich aber mit dem Ausgang der Parlamentswahl nur neue Probleme ein. Berlin sorgt sich. Einer lacht sich ins Fäustchen – im Kreml.
08.07.2024, 16:1908.07.2024, 16:26
Stefan Brändle, Paris / ch media
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Haben die Schulferien die Schicksalswahl in Frankreich entschieden? Mit dem Beginn der langen Sommerpause hat am Wochenende der grosse Reiseverkehr in den Süden begonnen. 3,6 Millionen Franzosen hatten einer zurückbleibenden Person eine Stimmvollmacht hinterlassen, so viele wie noch nie. Und einige Forscher schätzen, dass die Ferienstimmung der Stänkerin Marine Le Pen geschadet haben könnte.

Die Brandmauer der republikanischen Kräfte gegen die Rechtsnationalen hat jedenfalls funktioniert. Das Rassemblement National (RN) von Marine Le Pen hat die Regierungsmehrheit klar verfehlt. Die von Emmanuel Macron angesetzten Neuwahlen sind für den französischen Präsidenten glimpflich ausgegangen. Angeschlagen bleibt er dennoch. Vielleicht gar angezählt.

French President Emmanuel Macron votes for the second round of the legislative elections in Le Touquet-Paris-Plage, northern France, Sunday July 7 2024. Voting has begun in mainland France on Sunday i ...
Emmanuel Macron bei der Stimmabgabe am Sonntag, dem 7. Juli.Bild: keystone

Wohlweislich zeigte er sich am Wahlabend nicht im Fernsehen. Nur ein nichtssagendes Communiqué erschien seitens des Élysée-Palasts, laut dem «der Präsident der Republik Kenntnis von dem Wahlresultat» nehme. Zu der ihm obliegenden Ernennung eines Premierministers und der Bildung einer Regierung hiess es: «Als Garant unserer Institutionen wird der Präsident darauf achten, den souveränen Willen der Franzosen zu respektieren.»

Bloss: Was wollen die Franzosen? Erstmals in der Fünften Republik drängt sich in der 577-köpfigen Nationalversammlung kein Regierungslager auf. Die linke Volksfront hat 182 Abgeordnete, das RN 143 und das Macron-Lager 156; abgeschlagen folgen die konservativen Republikaner mit 66 Abgeordneten. Die Rechnung ist schnell gemacht: Kein Lager hat eine absolute Mehrheit.

Die Linksradikalen machen Druck

Normalerweise müsste der Staatspräsident den Premier aus der stärksten Kraft, also der Volksfront, ernennen. Vor allem ihre linksradikale Komponente, das «Unbeugsame Frankreich», macht heftig Druck darauf. Ihr historischer Anführer Jean-Luc Mélenchon trat am Sonntagabend umgehend vor die Kameras und erklärte sich bereit, «das ganze Wahlprogramm der Volksfront, nichts weniger,» in die Tat umzusetzen.

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Jean-Luc Mélenchon ist selbst in seiner eigenen Bewegung nicht unumstritten. Dennoch möchte er Premierminister werden.Bild: keystone

Dieser Massnahmenkatalog trägt die Handschrift der «Unbeugsamen» und ist sogar bei Sozialdemokraten umstritten. Er blockiert gewisse Lebensmittel- und Energiepreise und erhöht das Mindesteinkommen sowie die Beamtenlöhne; die Kosten dafür würden sich bis Ende nächsten Jahres auf 125 Milliarden Euro belaufen.

Am Montag gab der Grüne Yannick Jadot bekannt, die Volksfront werde «noch diese Woche» eine eigene Regierung präsentieren. Das heisst: Macron soll sie nur noch abnicken können. Mit diesem Vorpreschen will die Linke nicht nur den Staatspräsidenten vor vollendete Tatsachen stellen, sondern auch die Sozialdemokraten. Denn sie werden hinter den Kulissen auch von Macron umgarnt.

Der Präsident will dem Vernehmen nach eine grosse Koalition mit gemässigten Konservativen, Grünen und abtrünnigen Sozialdemokraten bilden. Diese «Regenbogen-Allianz», wie sie in Paris genannt wird, könnte rein arithmetisch auf die absolute Mehrheit kommen.

Also eine Mitte-Allianz statt die linke Volksfront? Moderat statt radikal? Auch nicht wirklich: Macrons Idee riecht zu sehr nach seinem alten Konzept eines dritten Blocks in der Mitte. Und die gilt als ursächlich für den Vormarsch der Lepenisten.

Hamas-Positionen und Putin-Verständnis

Aber es gibt in der «Parti socialiste» nicht wenige Sozialdemokraten wie den ehemaligen Premier Manuel Valls, der die linkspopulistischen «Unbeugsamen» ebenso ablehnt wie die Lepenisten. Im Hintergrund steht der Vorwurf, «La France insoumis» (LFI) übernehme Hamas-Positionen gegen Israel und russische Argumente im Ukraine-Krieg. Sozialistenchef Olivier Faure, der Mélenchon nahesteht, lehnt einen Regierungspakt mit Macron aber in jeder Form ab.

Zwischen den beiden Flügeln der Sozialdemokraten steht eine bekannte Figur: François Hollande, Präsident von 2012 bis 2017 und am Sonntag als Abgeordneter gewählt. Er plädiert für Verhandlungen der gesamten Volksfront mit den Macronisten. Betonung auf «gesamt», das heisst mit Einschluss der «Unbeugsamen». Und dort liegt der Haken: Sie könnten sich auf keinen Fall mit Macron einigen, planen sie doch nichts weniger als die Abschaffung der Rentenreform – Macrons Hauptwerk.

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François Hollande war von 2012 bis 2017 Präsident Frankreichs.Bild: keystone

Kurz: In Paris herrscht «le grand flou», wie ein Pariser Blatt die grosse Ungewissheit nennt. Ist eine Regimekrise im Aufzug? Verfassungsrechtler beschwichtigen, die von Charles de Gaulle 1958 geschaffene Fünfte Republik verfüge über solide Institutionen und flexible Abläufe für eine Regierungsbildung. Mag sein. Aber was der Verfassungsvater nicht vorgesehen hatte, war die noch nie dagewesene Schwäche des Präsidenten.

Man erinnert sich: Landesvater Charles de Gaulle war 1969 aus einer sichereren Position zurückgetreten. Macron hat seine präsidiale Aura verloren. Und seine Aussichten sind dunkel: Er wird die Lepenisten als wichtigste Oppositionskraft zur Rechten haben – und vielleicht Linksradikale in der Regierung.

In der Grande Nation brodelt es

Macrons Problem ist aber letztlich Frankreichs Problem: Der EU-Gründerstaat ist derzeit in einer sehr instabilen und gespannten Verfassung, wie am Sonntagabend auch die Krawalle linker «Antifas» im Anschluss an Wahlfeiern in Paris und anderen Städten zeigten. Frankreich ist zwar grossmehrheitlich erleichtert, dass die politisch unerfahrenen Rechtsnationalen keine Regierung bilden werden. Doch das Land bleibt nahe an einer nationalen Nervenkrise. Die politische Blockade bleibt ungelöst.

Bicycles burn during tensions near Republique plaza following the second round of the legislative elections, Sunday, July 7, 2024 in Paris. A coalition of the French left that quickly banded together  ...
In Paris und anderen französischen Grossstädten kam es am Sonntag zu Krawallen.Bild: AP

In Brüssel und Berlin macht man sich nach dem ersten Aufatmen über die Le Pen-Bremse wieder Sorgen um das Schicksal der Grande Nation. Die deutsch-französische Freundschaft wird von den Extremisten in Paris infrage gestellt. Frankreich wirkt so fragil wie wohl noch nie in der Fünften Republik, wenn man vom Mai 1968 absieht. Und damals herrschte Aufbruchstimmung; jetzt dominieren in Paris düstere Volkstribune wie Le Pen oder Mélenchon.

In Moskau herrscht dagegen Freude über die Destabilisierung eines Landes, das Wladimir Putin seit langem und vorrangig zu unterwandern sucht. Am letzten Freitag erst ist dazu eine Studie des französischen Forschungsinstitutes CNRS erschienen. Sie zeichnet fundiert und detailliert die Unterwanderungsversuche des russischen Regimes in Frankreich nach.

Falsche Zeitungsartikel zugunsten von Le Pen und Mélenchon; Troll-Lawinen gegen Macron, die «Marionette der Amerikaner»; manipulierte Websites der Macron-Partei Renaissance: All dies geht auf die kremlnahe Hackergruppe DoppelGänger zurück. «Diese Strategie zielt darauf ab, die französische Gesellschaft systematisch zu destrukturieren», folgert das CNRS. Wie es jetzt scheint, sind die Attacken aus Moskau gar nicht mehr nötig: Frankreich destabilisiert sich selbst. (aargauerzeitung.ch/ear)

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8 Arten, Frankreich aufzuteilen
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8 Arten, Frankreich aufzuteilen
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34 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Atavar
08.07.2024 16:37registriert März 2020
Verrückte Idee: alle politisch Aktiven, die Extremismus verhindern wollen, könnten sich anstatt mit Klientelproblemen mit den Problemen der Mehrheitsgesellschaft beschäftigen (Mieten, Gesundheitskosten, Altersvorsorge, Kaufkraftverluste, usw.).

Dann bräuchte es weniger Panik vor Extremisten, weniger Appelle an die Vernunft der Wählerinnen und weniger erhobenen Zeigefinger.
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KOHL
08.07.2024 16:51registriert März 2019
Danke! Nach all den Jubelbeiträgen endlich eine etwas differenzierte Betrachtung. Freuen wirds vor allem den Herrn im Kreml.
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Grobianismus
08.07.2024 16:45registriert Februar 2022
Vielleicht sollten die Franzosen darüber nachdenken, ihre Konkurrenzdemokratie in eine Konkordanzdemokratie zu wandeln. Ein Präsident hat den Vorteil, schnell Entscheide fällen zu können. Wenn die Regierung jedoch lahmgelegt ist, da die verschiedenen Mächte fast gleich gross sind, nützt ihnen auch ein Präsident nichts mehr.
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