«Brüder, zur Sonne, zur Freiheit», das traditionelle Kampflied der Sozialisten anzustimmen, wäre wohl übertrieben. Doch ein bisschen Freude darf sich das linke Lager gönnen. In einer Zeit, in der fast alles gegen sie zu laufen schien, haben die Wahlresultate im Vereinigten Königreich und Frankreich unverhofft für eine Atempause gesorgt.
Dabei war gerade für Linke und Linksliberale die politische Wetterlage der letzten Wochen wie der Verlauf des Sommers: deprimierend. In den USA lässt sich die Altersschwäche von Joe Biden nicht mehr leugnen, eine Wiederwahl von Donald Trump ist realistisch geworden.
In Deutschland verheddert sich eine Ampelregierung unter einem zögernden Bundeskanzler und öffnet Tür und Tor für den Vormarsch der AfD. Noch schlimmer sieht es in Österreich aus, wo der Aufstieg von Herbert Kickl unabwendbar scheint.
Mit einer überstürzten Aktion schien auch Emmanuel Macron Frankreich ins rechtspopulistische Elend zu stürzen. Die erste Runde der überraschend vorgezogenen Parlamentswahlen ging klar an Marine Le Pen und ihr Rassemblemt National. Nach Italien drohte auch in Frankreich eine neofaschistische Regierung an die Macht zu kommen.
Rundum türmten sich schwarze Polit-Wolken auf: Viktor Orbán fährt mit Brüssel Schlitten und missbraucht die EU-Präsidentschaft Ungarns für ein Appeasement gegenüber Wladimir Putin. Der russische Präsident setzt derweil seine zynische Fleischwolf-Taktik im Krieg gegen die Ukraine fort und opfert täglich mehr als tausend seiner Soldaten, um kleinste Geländegewinne zu erzielen.
Die allgemeine Depression im linken Lager wird verschärft durch die Tatsache, dass keine zwingenden Gründe für den Vormarsch der Rechtspopulisten zu erkennen sind. Anders als in den Dreissigerjahren gibt es keine übermässig grosse wirtschaftliche Not. In den USA müssen die Demokraten ums Weisse Haus bangen, obwohl die ökonomischen Makro-Daten nicht besser sein könnten. Auch Frankreichs Wirtschaft wurde noch vor Monaten in den höchsten Tönen gelobt. Die deutsche könnte besser dastehen, befindet sich jedoch keineswegs in einer schweren Rezession.
Ratlosigkeit ist daher ein weiteres Phänomen im linken Lager. Hat der lange Frieden den Horror des Faschismus verblassen lassen? Ist Wokeness wirklich so gefährlich, dass wir deswegen einem neuen Führerkult huldigen? Reicht die Wut auf eine angebliche Elite, um rechtmässig verurteilte Verbrecher an die Macht zu lassen?
Im konservativen Lager macht sich derweil Defätismus breit. «Amerika, Frankreich und Deutschland: Drei Mächte der ‹freien Welt›, wie es im Kalten Krieg noch zutreffend hiess, durchleiden eine Führungskrise», jammert etwa NZZ-Chefredaktor Eric Gujer und schickt sich bereits in vermeintlich Unvermeidliches: «Nun steht der Gottseibeiuns (Donald Trump) vor einer zweiten Amtszeit. Selbst wenn die Demokraten den Kandidaten austauschen, sind ihre Siegeschancen gering.»
Und jetzt diese Woche: Die verdiente Niederlage der Konservativen in Grossbritannien vom Donnerstag ist höher ausgefallen als erwarte. Nigel Farage, die britische Antwort auf Trump, muss kleinere politische Brötchen backen als erhofft.
In den USA ist ein Rücktritt Bidens wohl unausweichlich geworden. Damit ändert sich die Ausgangslage im amerikanischen Wahlkampf grundlegend, eine Wiederwahl Trumps ist alles andere als sicher. Selbst in Deutschland hat das Mini-Sommermärchen an der Fussball-EM die gedrückte Stimmung leicht aufgehellt.
Für die grösste Überraschung haben jedoch die Franzosen am Sonntag gesorgt. Selbst wenn noch alles andere als klar ist, wie sich Macron und die neue Volksfront finden werden, ist der Durchmarsch der Postfaschisten um Le Pen auf eindrückliche Art und Weise gestoppt worden. Die Franzosen haben damit bewiesen, dass sie sich weder von einer Immigranten-Hysterie noch vom Benzinpreis ins Bockshorn jagen lassen, sondern auch gewillt sind, Werte wie Demokratie und Rechtsstaat zu verteidigen.
Ein paar sonnige Tage machen noch keinen Sommer, auch keinen Polit-Sommer. Die Franzosen haben zwar eine postfaschistische Regierung verhindert, doch ein Plan für die Zukunft ist noch nicht zu erkennen. In Deutschland ist die AfD weiterhin auf dem Vormarsch, und in den USA droht weiterhin immer noch eine Wiederwahl Trumps.
Aber eine Atempause haben sich die Linken und die Linksliberalen verdient. An die Adresse der Defätisten können sie daher ein altbewährtes Zitat von Mark Twain richten: «Die Nachrichten von meinem Tod sind stark übertrieben.»
Ich freue mich, dass Le Pen verloren hat. Ich finde es schade, dass ein ebenso extremer Mélenchon zu den Gewinner gehört.
Hoffen wir, dass sich bei den europäischen Linken langfristig die Normalen gegenüber den Populisten durchsetzen.