Am 5. Mai verschwinden Dom Philips und Bruno Pereira spurlos im Amazonas. Der britische Journalist Dom Philips war mit dem indigenen Experten Bruno Pereira für Recherchen im Javari Tal unterwegs – einem abgelegenen Gebiet, welches als gesetzeslos und unwegsam bekannt ist.
Nach Angaben einer regionalen Ureinwohner-Organisation waren die beiden am Nachmittag des 2. Juni in der Stadt Atlaia do Norte für einen 2-tägigen Trip mit dem Boot aufgebrochen. Am Sonntag, dem 5. Juni, hätten sie wieder dorthin zurückkehren sollen. Dort wartete man allerdings vergeblich auf die Ankunft der beiden Männer. Kein gutes Zeichen, hatte Philips doch nur Tage zuvor bei der Polizei gemeldet, mehrmals bedroht worden zu sein.
Obwohl der Amazonas für Aktivistinnen und Aktivisten als gefährlich bekannt ist, hat sich die Regierung erst spät eingeschaltet. Der brasilianische Präsident Jair Bolsonaro bequemte sich erst zwei Tage nach dem Vorfall zu einer Stellungnahme. Dies auch erst, nachdem der internationale Druck von NGOs und dem UN-Menschenrechtsbüro grösser wurde. Seine Anteilnahme hielt sich in seiner Aussage in Grenzen:
Ein Suchhelikopter – welcher in diesem weiten und unwegsamen Gebiet unerlässlich ist – wurde auch erst am Dienstag ausgesandt.
Die Antwort der Behörden sei insgesamt sehr minimal gewesen, kritisiert «The Guardian». Überraschen tut das Verhalten Bolsonaros allerdings nicht. Es steht im Einklang mit seiner Politik im Amazonas, die auf volle Ausbeutung der dort liegenden Ressourcen abzielt.
Am 13. Juni, eine Woche nach dem Verschwinden der Männer, waren es dann auch freiwillige indigene Suchtrupps, welche als erste persönliche Gegenstände der Vermissten entdeckten. Demnach seien unter anderem die Krankenversicherungskarte Pereiras, ein Rucksack Philips sowie Kleidung und Schuhe der beiden Männer gefunden worden.
Am selben Tag wurde die Familie Philips von der brasilianischen Botschaft in London darüber informiert, dass zwei noch unidentifizierte Leichen gefunden worden seien. Dies stellte sich allerdings als Fehlinformation heraus, wofür sich die Botschaft bei der Familie entschuldigte.
Erst drei Tage später, am 15. Juni, wird Familie Philips die traurige Gewissheit erhalten: Dom Philips und sein Begleiter Bruno Pereira sind tot. Einer von zwei festgenommenen Verdächtigen hatte zugegeben, die beiden getötet zu haben. Bei den Verdächtigen handelt es sich um die Gebrüder Amarildo und Oseney da Costa de Oliveira, die als Fischer tätig sind. Es wird spekuliert, dass diese Philips und Pereira als Bedrohung aufgefasst haben könnten. Denn in der Gegend, die als Schutzgebiet gilt, werden lukrative illegale Fischereien betrieben.
Am Dienstag gab der geständige Verdächtige den Ort bekannt, an dem er die Leichen begraben hatte und versprach der Polizei, sie dort hinzubegleiten. Die Suche führte die Polizei von Atalaia do Norte eine Stunde und 40 Minuten per Boot dem Fluss entlang, und dort noch einmal 3,1 Kilometer zu Fuss in den dichten Regenwald. Dort wurden die Leichen aus dem Boden ausgehoben und zurück nach Atalaia do Norte gebracht, wo sie noch identifiziert werden müssen. Die Familie Philips ist über diese Neuigkeit erleichtert. In einer Erklärung schreibt Philips Frau, Alessandra Sampaio:
Für die Indigenen geht der Kampf für Gerechtigkeit weiter. Denn der Tod Philips und Pereiras ist das Resultat einer Politik, welche den Amazonas ohne Rücksicht auf Verluste ausbeutet.
Die tropischen Regenwälder des Amazonas erstrecken sich über eine Fläche von 8 Millionen Quadratkilometer, was in etwa der Fläche Australiens entspricht. 65 Prozent des Regenwaldes entfallen dabei auf Brasilien, der Rest verteilt sich über acht weitere Länder.
Während der Amazonas aufgrund seiner riesigen Fläche an Wald auch als «Lunge der Erde» gilt, bietet er auch etlichen indigenen Gruppen eine Heimat. Survival International schätzt die Anzahl indigener Gruppen im Amazonas auf etwa 400. Die internationale Nichtregierungsorganisation setzt sich weltweit für den Schutz der Land- und Menschenrechte indigener Völker ein. Ein spezielles Augenmerk legen sie insbesondere auf isolierte Gruppen, sowie solche, die noch gar nie kontaktiert worden sind.
Survival International möchte dafür sorgen, dass dies so bleibt, da die Kontaktaufnahme mit erheblichen Risiken für die Indigenen verbunden ist – insbesondere durch eingeschleppte Krankheiten, gegen die keine Immunität besteht. Es sei nicht unüblich, dass innerhalb eines Jahres nach einer Kontaktaufnahme, die Hälfte einer indigenen Gruppe von Krankheiten dahingerafft werde. Dies solle unbedingt vermieden werden.
Auf nationaler Ebene ist die Fundação Nacional do Índio (FUNAI) mit dieser Aufgabe und mit der Einhaltung der Rechte indigener Gruppen betraut. Mehr dazu später.
Die meisten unkontaktierten Gruppen befinden sich in eben diesem Tal, in dem Philips und Pereira ihre letzte Reise unternehmen sollten. Das Javari-Tal besitzt etwa die Fläche Österreichs und beheimatet gemäss Survival International 100 unkontaktierte Gruppen. Bereits 2018 unternahmen Philips und Pereira eine Reise in das Dickicht des Regenwalds, um die Bewegungen einer unkontaktierten Gruppe nachzuverfolgen.
Die Natur – und damit auch der Lebensraum der Indigenen – ist in diesem Grenzgebiet zu Peru und Kolumbien durch illegale Goldsuche, Abholzung und Drogenschmuggel besonders gefährdet. Mit dem Ziel, den Amazonas besser zu schützen, wollte Philips diese illegalen Machenschaften dokumentieren.
Ein schwieriges Unterfangen, denn das Javari-Tal ist aufgrund seiner Abgeschiedenheit und den darin stattfindenden Konflikten als gesetzloser Raum bekannt. Den illegalen Holzfällern und Goldgräbern sind die indigenen Gruppen ein Dorn im Auge, «besetzen» sie ja wertvolles Land. So soll es letztes Jahr zu mehreren Attacken von Goldgräbern auf Indigene gekommen sein. Auch Bolsonaro sah das Problem, weshalb er eine Lösung ausarbeitete. Eine allerdings, die ihn und seine Pläne begünstigte.
Dass Bolsonaro auf den gefährdeten Amazonas keine Rücksicht nimmt, ist mittlerweile bekannt: Die Zerstörung der riesigen Wälder hat unter seiner Führung dramatisch zugenommen. Kritiker werfen ihm vor, Umweltschutzregeln zugunsten der mächtigen Agrarwirtschaft auszuhöhlen.
Seit seiner Amtsübernahme im Jahr 2019 hat die durchschnittliche jährliche Zerstörung des brasilianischen Amazonas-Regenwaldes nach offiziellen Angaben um 75 Prozent im Vergleich zum vorherigen Jahrzehnt zugenommen.
Ungeachtet dessen, dass der Lebensraum der Indigenen bereits durch das illegale Abholzen und den Bergbau stetig schrumpft, setzt Bolsonaro noch einen obendrauf. In seinen Augen besetzen die Indigenen wertvolles Land, dessen Ressourcen im Interesse der Nation genutzt werden sollten. Aus seiner Abneigung gegen die Indigenen macht er keinen Hehl. So sagte er bereits 2015:
Wenn es nach ihm ginge, so würden alle indigenen Gebiete abgeschafft. Allerdings stehen ihm dafür einige Gesetze zum Schutz der Indigenen im Weg. Bolsonaro lässt sich davon aber nicht aufhalten, sondern arbeitet 2020 ein umstrittenes Gesetzespaket aus, dass ihn seinem Ziel zumindest etwas näher bringen sollte.
Am 9. März 2022 hat die Abgeordnetenkammer in Brasilien den Gesetzesentwurf PL 191/2020 gebilligt. Mit diesem Gesetz sollen Bergbau, Wasserkraft und industrielle Landwirtschaft in indigenen Territorien legalisiert werden. Kurz: Die Rechte der Indigenen werden beschnitten und grossen Konzernen Tür und Tor für die Ausbeutung geöffnet. Die Indigenen müssen über Projekte auf ihrem Land informiert werden (auch bisher unkontaktierte Gruppen), ein Veto-Recht haben sie allerdings nicht.
Aufgrund einer Dringlichkeitsregelung wurde das Gesetz ohne die übliche Bearbeitungszeit und Analyse durchgepeitscht, was im Land zu massiven Protesten geführt hat. Doch was veranlasste diese Dringlichkeitsregelung? Gemäss Bolsonaros Argumentation: der Ukraine-Krieg.
“O Brasil tem alma, o Brasil tem gente, o Brasil resiste”, Caetano Veloso inicia ato pela Terra em Brasília.
— Apib Oficial (@ApibOficial) March 10, 2022
📸 @midianinja #AtoPelaTerra #CaetanoPelaTerra#EmergênciaIndígena #PL191NÃO pic.twitter.com/6HhiXXRl6d
«Angesichts des Krieges zwischen Russland und der Ukraine besteht heute die Gefahr, dass es zu einer Verknappung des Kaliums oder einem Anstieg seines Preises kommt», schrieb Bolsonaro am 2. März auf Twitter. Und weiter:
Nebst dem PL 191 umfasste das Gesetzespaket auch PL 490. PL 490 besagt, dass Indigene nur Anspruch auf Land haben, wenn sie nachweisen können, dass sie schon zum Zeitpunkt der Verabschiedung der brasilianischen Bundesverfassung 1988 darauf ansässig waren. Eine solche Zeitrahmen-These auf isolierte Völker anzuwenden sei unmöglich, sagt Fabricio Amorim, ein langjähriger ehemaliger Mitarbeiter der FUNAI. «Es gibt einfach keine Beweise dafür, dass sie zu einem bestimmten Zeitpunkt einen bestimmten Ort besiedelt haben.» Zudem seien viele dieser Völker so gut wie immer in Bewegung.
Während das PL 191 noch dem Plenum vorgelegt werden muss, wird das PL 490 derzeit noch vom Obersten Gerichtshof begutachtet. Die Entscheidung steht noch aus.
Die FUNAI ist die nationale Behörde, verantwortlich für Angelegenheiten der indigenen Bevölkerung in Brasilien. In der Verfassung ist festgehalten, dass sie die Einhaltung indigener Rechte sicherstellen muss. Dazu gehört auch das Beobachten isolierter Gruppen.
Schon vor Amtsantritt wusste Bolsonaro, dass die FUNAI seinen Plänen einige Steine in den Weg legen würde. So soll er laut Survival International schon vor seiner Wahl eine Warnung ausgesprochen haben:
Seinen Worten liess er Taten folgen: Zwar konnte er die FUNAI nicht einfach auflösen, da ihre Tätigkeit in der Verfassung verankert ist, doch konnte er sie gefügig machen. So entliess er sie unmittelbar an seinem ersten Amtstag als brasilianischer Präsident im Januar 2019 aus dem einflussreichen Justizministerium. Ab diesem Zeitpunkt soll die FUNAI zum neu gegründeten Ministerium für Frauen, Familie und Menschenrechte gehören.
In einem weiteren Schritt entzog er der FUNAI die Zuständigkeit zur Bestimmung von Indigenen-Territorien. Diese übergab er stattdessen niemand geringerem als dem Landwirtschaftsministerium, in dem die konservative Agrarlobby das Sagen hat. Von vielen Seiten wurde dieser Schritt als verfassungswidrig erklärt, bis der Entscheid knapp vier Monate später vom Kongress rückgängig gemacht wurde.
Bolsonaro liess sich nicht davon nicht beirren und wartete mit einer anderen Lösung auf: Er besetzte die FUNAI mit einem neuen Präsidenten, der seinen Kurs unterstützte. Nachdem der Vorgänger auf Drängen der Agrarlobby seines Amtes enthoben worden war, rückte der Bundespolizeikommissar Augusto Xavier da Silva an seine Stelle. Ein Mann nach dem Gusto Bolsonaros, der gute Beziehungen zur Agrarlobby pflegt. Der abgesetzte Präsident Gen Franklimberg de Freitas warnte vor dem neuen Mann: Garcia «schäume vor Hass» gegenüber indigenen Menschen. So ist es wenig überraschend, dass er als Bundespolizeikommissar nach seiner Amtsübernahme mehrere Kollegen mit Ermittlungen gegen verschiedene indigene Anführer und gar FUNAI-Mitarbeitende beauftragt hatte.
Im September 2019 wurde der Mitarbeiter Maxciel Pereira dos Santos vor den Augen seiner Familie mit zwei Schüssen in den Kopf getötet. Er bekämpfte den illegalen kommerziellen Abbau im Javari-Tal. Ende 2019 wurde Bruno Pereira ohne Angabe von Gründen aus der FUNAI geschmissen. Zuvor hatte er einen Einsatz zur Zerstörung illegaler Minen geleitet.
Schon lange fordern diverse indigene Organisationen die Absetzung des amtierenden FUNAI-Präsidenten, während innerhalb der FUNAI ein Klima der Angst herrscht. Die FUNAI sei eine Komplizin der Regierung geworden und kompetente Mitarbeitende würden entfernt oder gingen aus Angst freiwillig, klagen ehemalige Mitarbeitende gegenüber der «Thomas Reuters Foundatoin». «Genau das Gremium, das uns eigentlich schützen sollte, ist gegen uns», so indigene Anwältin Cristiane Soares Bare. Gegenüber «National Geographic» streitet die FUNAI jegliches Fehlverhalten ab und betont das Ziel, die Autonomie der indigenen Bevölkerung in Brasilien zu stärken.
Im Februar 2020 tätigte Bolsonaro eine weitere umstrittene Entscheidung. Er ernannte den Anthropologen Ricardo Lopes Dias zum Leiter der Abteilung für unkontaktierte Gruppen. Kritikpunkt: Dias war zuvor über 10 Jahre in der «New Tribes Mission» tätig. Eine evangelikale Missionsbewegung, deren Ziel es ist, isolierte Gruppen zu erreichen. Der Aufschrei bei indigenen Organisationen war gross. Auch ein brasilianisches Bundesgericht sah in diesen Tätigkeiten einen Widerspruch, weshalb entschieden wurde, Lopes seines Amtes zu entheben.
Auch wenn Bolsonaro mit seinem Vorhaben immer wieder auf Widerstand stösst, so schreitet die Ausbeutung des Amazonas im Rekordtempo voran. «Die Regierung Bolsonaro leistet der Abholzung und der Umweltkriminalität Vorschub, und was wir ernten, sind diese schrecklichen, beängstigenden, empörenden Zahlen», sagte der Leiter des Aktivistennetzwerks Climate Obeservatory, Marcio Astrini, der Nachrichtenagentur AFP.
Mit dem Tod Dom Philips und Bruno Pereiras reihen sich zwei weitere tragische Schicksale in die Statistik ein. Sie sind das Resultat Bolsonaros Ignoranz gegenüber dem Amazonas als Lebensraum und als Schlüsselkomponente im Weltklima. Indigene Gruppen machen nicht zuletzt die FUNAI für den Tod der beiden Männer verantwortlich, die sich zu wenig um die Sicherheit ihrer (ehemaligen) Mitarbeitenden sorge.
Mit Speeren bewaffnet und traditionell gekleidet zogen indigene Menschen in Atalaia do Norte am Montag in einem Protestzug durch die Strasse.
Hundreds of indigenous citizens marching through Atalaia do Norte now to demand justice for Bruno and Dom pic.twitter.com/62lx3aG0zT
— Tom Phillips (@tomphillipsin) June 13, 2022
Sie forderten nicht nur Gerechtigkeit für sich selbst, sondern auch für Dom Philips und Bruno Pereira und versprachen zugleich, den Kampf weiterzuführen:
Ich verstehe es echt nicht! Wie kann ein weisser Nachfahre von italienischen & deutschen Einwanderern als President eines südamerikanischen Landes zu so viel Macht kommen, dass er ungestraft zu Mord an Abhängigen aufrufen und die Zerstörung des Regenwald anordnen kann? Von seinen faschistischen, sexistischen und diskriminierenden Parolen reden wir noch nicht einmal. Wer dachte Trump sei schlimm hat vom Bolsi noch nichts gehört.
Und natürlich die nützlichen Idioten, die ihre populistische Brühe aufsaugen und sie wählen.