Pünktlich vor der nächsten Verhandlungsrunde am Dienstag platzierte die britische Regierung zwei Kampfansagen, die die EU-Seite in Brüssel in helle Aufregung versetzten. EU-Abgeordnete sprachen von «Erpressung», «Schock» und «Wahnsinn».
Zum einen setzte Premierminister Boris Johnson am Montag eine Art Ultimatum: Entweder man einige sich bis zum 15. Oktober oder beide Seiten sollten ihrer Wege gehen, erklärte der Regierungschef. Er verband dies mit der fast euphorischen Einschätzung, dass auch künftige Beziehungen ohne Vertrag «ein gutes Ergebnis für das Vereinigte Königreich» wären.
Zum anderen liess die Regierung über die «Financial Times» Pläne für ein Binnenmarktgesetz in die Öffentlichkeit sickern, die das bereits besiegelte und gültige Austrittsabkommen beider Seiten zum Teil aushebeln würden. Dabei geht es ausgerechnet um die heikelsten Passagen des Abkommens: die Vermeidung einer harten Grenze zwischen dem britischen Nordirland und dem EU-Staat Irland.
Zur Erinnerung: Grossbritannien ist zwar schon am 31. Januar aus der EU ausgetreten. Doch gelten in einer Übergangsfrist bis 31. Dezember alle EU-Regeln im Vereinigten Königreich weiter. Der wirtschaftliche Bruch kommt erst dann.
Um Zölle und hohe Kosten zu vermeiden, verhandeln beide Seiten seit Monaten über einen Handelspakt. Greifbare Ergebnisse gibt es nicht, dafür immer schärfere gegenseitige Ermahnungen, sich endlich zu bewegen.
Dass, wie Johnson jetzt betonte, ein Abkommen bis Oktober stehen müsste, ist nichts Neues. Das betont auch die EU, denn sonst bliebe nicht genug Zeit zur Ratifizierung. Provozierend für die EU ist Johnsons scheinbare Gleichmut gegenüber einem Scheitern.
Dann würde man eben Handel wie mit Australien betreiben, erklärte der Premier. Grossbritannien hätte volle Freiheit bei Gesetzen, Regeln, Fischerei, bei Verträgen mit Drittstaaten, schwelgte er. «Und es wird uns im Ergebnis sehr gut gehen.»
Die EU sieht das völlig anders und warnt vor tiefgreifenden wirtschaftlichen Folgen auf beiden Seiten für den Fall eines «No Deal». Ein EU-Diplomat kommentierte Johnsons Einlassungen grimmig, wenn die britische Regierung sich unbedingt über den Rand der Klippe stürzen wolle, könne die EU das nicht verhindern.
Wenn sich London nicht bald in den Verhandlungen bewege, befinde man sich tatsächlich auf dem Weg zu einem «No Deal – mit allen negativen Konsequenzen».
Fast noch heftiger war die EU-Reaktion auf den Bericht der «FT». EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen forderte Grossbritannien offiziell zur Einhaltung des Austrittsvertrages auf. Das sei Verpflichtung nach internationalem Recht und Voraussetzung für die künftige Partnerschaft, schrieb sie auf Twitter.
I trust the British government to implement the Withdrawal Agreement, an obligation under international law & prerequisite for any future partnership. Protocol on Ireland/Northern Ireland is essential to protect peace and stability on the island & integrity of the single market.
— Ursula von der Leyen (@vonderleyen) September 7, 2020
Ein Sprecher der EU-Kommission liess keinen Zweifel, was das heissen soll: Hält sich London nicht an den bereits geschlossenen Vertrag, hätte es kaum Sinn, einen weiteren auszuhandeln.
Die britische Regierung beschwichtige, man wolle nur «unerwünschte Konsequenzen» der Nordirland-Regeln verhindern und einige «spezifische Elemente» mit einem britischen Gesetz klarstellen. Indirekt bestätigte das quasi den Bericht der «FT».
Wie also stehen die Dinge tatsächlich - sind das mehr als Drohgebärden und Verhandlungstaktik? «Die jetzige Situation ist brisant», sagt der Brexit-Experte Fabian Zuleeg vom Brüsseler European Policy Centre der Deutschen Presse-Agentur. «Ich sehe die Gefahr sehr gross, dass es zu keinem Deal kommt.»
Johnsons Einschätzung, dass das kein grosser Beinbruch wäre, wischt der Experte vom Tisch: «Dann wäre man wieder an dem Punkt, wo an Tag eins gar nichts mehr geht. Das wäre ein hoher Kostenfaktor für die EU, aber vor allem für Grossbritannien.»
Ulrich Hoppe, Direktor der Deutsch-Britischen Industrie- und Handelskammer, sieht das genauso. Wichtigste Folge eines «No Deal» wäre nämlich, dass nach Regeln der Welthandelsorganisation Zölle erhoben werden müssten. So würden zum Beispiel Autos teurer, die in Grossbritannien produziert, aber auf dem Kontinent verkauft werden.
«Für viele Firmen wird es unter Umständen nicht mehr wirtschaftlich sein, in Grossbritannien in gleichem Masse zu produzieren», sagte Hoppe. Der Autobauer BMW, der in seinem Werk in Oxford den Mini produziert, erwartet für den Fall deutliche Einschnitte.
Lebensmittel-Discounter wie Aldi und Lidl, die im Vereinigten Königreich mit mehr als 65 Millionen Konsumenten stark expandieren, müssten die Unterbrechung von Lieferketten fürchten. «Viele Dinge müssen schnell angeliefert werden, weil die Ware verderblich ist oder die Lagerkosten so hoch sind», sagte Hoppe.
Grenzkontrollen würde diese Just-In-Time-Lieferung behindern, Unternehmen müssten grössere Lager anmieten. «Das sind Zusatzkosten.»
Auch die EU-Kommission rechnet mit «Verwerfungen», falls es zum 1. Januar keine Handelsvereinbarung geben sollte. Es entstünde Unsicherheit für Bürger, Unternehmen, Studenten und Forscher, schreibt die Brüsseler Behörde in einem Bericht vom Juli.
In demselben Papier erklärt sie auf 40 Seiten aber auch haarklein, dass selbst mit einem Abkommen drastische Änderungen kommen werden. Zollformalitäten und Kontrollen im Warenverkehr, das Ende der Freizügigkeit für Arbeitnehmer und Studenten. Britische Lokführer dürfen in der EU nicht mehr fahren, britische Uni-Abschlüsse gelten nicht mehr automatisch, die Anerkennung der Führerscheine muss neu geregelt werden, ebenso die Heimtierausweise für das Reisen mit Katzen oder Hunden. Und so fort.
In anderen Worten: Der Bruch kommt. Wie hart er wird, soll sich bis Mitte Oktober zeigen. (sda/dpa)