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Corona: Italiens Schüler haben genug vom Distanzunterricht

«Wir sind sauer» – Italiens Schüler haben genug vom Distanzunterricht

23.11.2020, 07:38
Johannes Neudecker / dpa
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Wenn Valeria morgens aufwacht, blüht ihr wieder ein langer Tag zu Hause vor dem Computer. Die Schülerin aus Rom hängt täglich gut sechs Stunden vor dem Laptop, denn da findet seit Wochen ihr Unterricht statt. Diese von der Corona-Pandemie hervorgerufene Art des Unterrichts regt junge Leute in Italien auf.

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Ein Schülerin der Visconti-Schule in Rom protestiert mit «Distanzlernen» vor der Schule.Bild: keystone

Im März hatte die Mitte-Links-Regierung Italiens die Schulen im Zuge der Pandemie geschlossen und erst Mitte September wieder geöffnet. Nach wieder gestiegenen Fallzahlen im Oktober wurde das Land mit rund 60 Millionen Einwohnern allerdings in drei Risiko-Zonen eingeteilt.

Seitdem gilt für Schüler in den höheren Jahrgangsstufen und Studenten an Universitäten in allen Risiko-Zonen wieder Unterricht auf Distanz. Je nach Region dürfen nur Kinder bis zu einem Alter von 10 bis 13 Jahren noch zur Schule gehen.

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Valeria und ihre Mitschüler frustriert das. Deshalb haben die 17-Jährige und ein gutes Dutzend anderer den Distanzunterricht vor ihr Gymnasium, das Liceo Pilo Albertelli unweit vom Kolosseum, verlagert. An die Hauswand haben sie ein rotes Banner mit der Aufschrift «La scuola siamo noi» (Die Schule sind wir) gehängt.

«Wir sind sauer. Deshalb sind wir hier», sagt Valeria, während sie in warmer Jacke im Schneidersitz und mit ihrem Laptop auf den Beinen auf der kalten Strasse sitzt. Die Regierung solle sie so ausstatten, dass sie wieder sicheren Unterricht in der Schule haben könne.

Das Prinzip des digitalen Unterrichts scheitert teils schon an der Ausstattung. Zahlen der italienischen Statistikbehörde aus dem vergangenen Jahr zufolge hatten zwölf Prozent der Kinder im Alter zwischen 6 und 17 Jahren keinen Computer oder kein Tablet.

epa08833372 Professor Daniele Baldissin gives a science lesson outside the Foscolo school during the Covid-19 pandemic emergency, Turin, Italy, 21 November 2020. EPA/Tino Romano
Daniele Baldissin unterrichtet seine Schüler in Turin draussen.Bild: keystone

Daniele, ein anderer Schüler, der vor dem Liceo protestiert, erzählt, dass in seiner Klasse manche den Unterricht auf dem Handy verfolgten. Andere müssten ein Gerät mit ihren Geschwistern teilen, sagt der 18-Jährige. Valeria hat nach eigener Aussage oft Kopfschmerzen vom langen Starren auf den Bildschirm und Augenweh.

Die Situation, zu Hause zu lernen, hat dem Psychiater Massimo Di Giannantonio zufolge auch Auswirkungen auf die mentale Verfassung und persönliche Entwicklung der Schüler. Die Verwirrung, zwischen dem, was real und dem, das virtuell ist, nehme für die ohnehin schon von Technik und Medien geprägten Jugendlichen zu. Es werde angenommen, dass sich die Zeit des Selbstständigwerdens und der Entwicklung des Verantwortungsbewusstseins dadurch verlangsamen könnte.

Auch in anderen Städten Italiens haben Schüler das Home-Schooling aus den eigenen vier Wänden auf die Strasse verlegt. In Turin brachte die 12-jährige Anita den Stein für die Protest-Bewegung der Schüler ins Rollen, die bald im ganzen Land aufkeimen sollte. «Ich will nicht berühmt werden, sondern - mehr als alles andere - möchte ich wieder in die Schule gehen», sagte sie der Zeitung «La Repubblica».

Mittlerweile sehen auch Regierungsberater Grund zum Handeln. Agostino Miozzo, der Beauftragte für zivilen Schutz, der die Kommission der wissenschaftlichen Berater der Regierung koordiniert, sah in den geschlossenen Schulen einen Notzustand, wie er im Interview mit der Zeitung «Corriere della Sera» sagte. Die Schüler müssten wieder zurück in die Schulen. Viele Politiker hätten sich dafür entschieden, sie zu opfern, um ein Zeichen effizienter Reaktion gegen den Notfall zu setzen, merkte er weiter an.

epa08832394 Scholl bags and material are displayed with protest placards as students of the Visconti high school stage a sit-in against distance learning, amid the second wave of the Covid-19 coronavi ...
«Die Schule sind wir»: Ein Protestschild in Rom.Bild: keystone

Italiens Schulministerin Lucia Azzolina zeigte sich in einem in der Zeitung «La Stampa» abgedruckten Brief solidarisch mit den Schulkindern. «Es dürft nicht Ihr sein, die den höchsten Preis für diesen Notfall bezahlen», schrieb die Ministerin. Sie werde weiter dafür arbeiten, dass Schulen, die digitalen Unterricht anbieten, so bald wie möglich wieder geöffnet werden.

Wann Valeria und ihre Freunde wieder in die Schule dürfen, wissen sie nicht. Im März habe man ihnen noch gesagt, der Distanzunterricht sei eine Notlösung, im Sommer habe es wieder Hoffnung auf eine Rückkehr gegeben. Doch Valeria sagt, sie habe gewusst, dass es wieder vor dem Computer zu Hause ende. (sda/dpa)

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14 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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mstuedel
23.11.2020 08:40registriert Februar 2019
Recht haben sie, diese Schüler. Der Umstieg auf Distanzunterricht gelingt nur dort, wo Lehrerschaft und Schüler dafür ausgerüstet und vorbereitet sind.
Wie wichtig funktionierende staatliche Institutionen sind - insbesondere die Schule - zeigt sich in dieser Krise.
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Toerpe Zwerg
23.11.2020 09:04registriert Februar 2014
Nun wird also auch den ganz Jungen zwecks Lebensverlängerung einer sich selbst-privilegierenden Generation auferlegt, mit minderwertiger Ausbildung ins Leben zu starten.

Wenigen Tagen zusätzlicher durchschnittlicher Lebenserwartung der privilegierten Alten werden die Lebenschancen derjenigen Generationen geopfert, welche die Privilegien so oder so tragen müssen.

Sie hinterlassen nie dagewesene Staatsschulden, haben sich riesige ungedeckte Rentenversprechen zugeschanzt und nun sollen die Nachfolgenden auf adäquate Ausbildung und Sozialkontakte verzichten, damit sie noch länger profitieren.
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