Nicht schlecht gestaunt haben dürfte der 64-jährige Stefan Niehoff aus dem fränkischen Burgpreppach, als vor rund zwei Wochen Polizisten frühmorgens vor seiner Haustür standen. Er habe den deutschen Wirtschaftsminister Robert Habeck diffamiert, begründeten die Beamten den Durchsuchungsbeschluss, den sie dem Rentner präsentierten. Niehoff hatte im Internet eine Fotomontage weiterverbreitet, die ein verfremdetes Logo des Shampoo-Herstellers Schwarzkopf zeigte. Zu sehen war Habecks Profil, darunter das Wort «Schwachkopf».
Die Empörung, die daraufhin losbrach, war vor allem in den sozialen Netzwerken gross. Sie traf Habeck, nicht Niehoff: Der pensionierte Bundeswehrangehörige, der sich dem Vernehmen nach rührend um seine behinderte Tochter kümmert, stand nun als Opfer eines Ministers da, der auf der Suche nach Genugtuung jedes Mass verloren hatte.
Einige Kritiker des Grünen-Politikers kommentierten schneller, als sie nachdachten: Natürlich war es nicht Habeck gewesen, der die Wohnung des Rentners durchkämmen liess, sondern die Staatsanwaltschaft Bamberg. Diese teilte zudem mit, die Durchsuchung sei bereits vor Habecks Strafantrag beantragt worden; ausserdem sei der Rentner auch schon durch andere Postings auffällig geworden.
Habecks Anzeigefreude ist gleichwohl bemerkenswert: Rund 800 Mal soll der Minister seit seinem Amtsantritt vor rund drei Jahren Strafantrag wegen Beleidigung gestellt haben. Ähnlich anzeigefreudig ist seine Parteikollegin, Aussenministerin Annalena Baerbock. Sie fühlte sich mehr als 500 Mal in einer Weise verbal angegangen, die es ihrer Meinung nach rechtfertigte, Polizei und Staatsanwaltschaft einzuschalten.
Bei den meisten anderen Ministern der Regierung Scholz blieb die Zahl der Anzeigen dagegen im tiefen zweistelligen Bereich; einige, darunter der sozialdemokratische Gesundheitsminister Karl Lauterbach, haben kein einziges Mal einen Strafantrag gestellt. Das ist insofern überraschend, als in den letzten Jahren kein Minister derart angepöbelt, beleidigt und bedroht worden sein dürfte wie Lauterbach, dessen Coronapolitik ihn zu einem der meistgehassten Politiker des Landes machte.
Dass Grüne besonders anzeigefreudig sind, mag mit dem idealistischen Ansatz ihrer Partei zusammenhängen: Sie meinen womöglich, Beleidigungen vollständig ausmerzen zu können, wenn sie nur lange genug Exempel statuieren lassen. Natürlich muss dies ein frommer Wunsch bleiben. Sympathischer werden die Grünen durch ihre Anzeigelust nicht, geht hier doch eine akademisch gebildete Mittelschicht gegen ein Prekariat vor, das oftmals Schwierigkeiten hat, sich in der Öffentlichkeit zu artikulieren. So entsteht der Eindruck eines Klassenkampfs von oben.
Hinter der Anzeigefreude steckt wohl auch die Vorstellung, die Gesellschaft sei dabei, zu verrohen. Beleidigt und gepöbelt wurde aber schon immer, nur fand dies früher im geschützten Raum der Familie oder des Stammtischs statt. Heute, wo jeder auf X, Tiktok oder Facebook auf Sendung gehen kann, sind Ausfälligkeiten für alle Welt sichtbar.
So entsteht bei manchen der Eindruck, schlimmer als heute sei es nie gewesen. Dabei ging es in der deutschen Politik vor einigen Jahrzehnten noch sehr viel rauer zu: «Herr Präsident, Sie sind ein Arschloch, mit Verlaub!», warf etwa Joschka Fischer, ein Parteikollege Habecks und Baerbocks, 1985 dem Bundestagspräsidenten Richard Stücklen an den Kopf. Einige der Beleidigungen, die sich Helmut Kohl in jenen Jahren anhören musste, würden heute womöglich als «Fatshaming» qualifiziert.
1949, vor der ersten Bundestagswahl der Geschichte, beschimpfte der christdemokratische Wirtschaftsminister Ludwig Erhard den SPD-Chef Kurt Schumacher als «pathologischen Schwachsinnigen». Rund drei Jahrzehnte später nannte der SPD-Chef Willy Brandt den CDU-Generalsekretär Heiner Geissler «den schlimmsten Hetzer seit Goebbels».
Dies sind nur einige wenige, eher willkürlich ausgewählte Beispiele für die verbale Härte, mit der man in den Bonner Jahren der Bundesrepublik miteinander umging. Anzeige erstattete deshalb keiner, eher begriff man Beleidigungen als Teil der Show. In manchen Fällen ging man, nachdem man sich im Plenarsaal gegenseitig angepöbelt hatte, gemeinsam noch ein Glas Bier oder Rheinwein in der Bundestagskantine trinken.
Idealisieren sollte man die alten Zeiten deshalb nicht: Dass ein demokratischer Politiker linke Schriftsteller und Intellektuelle als «Ratten und Schmeissfliegen» beschimpft, wie es der Christsoziale Franz Josef Strauss 1978 tat, ist heute Gott sei Dank unvorstellbar. Richtig bleibt allerdings, was Helmut Schmidt sagte: «Politik ist ein Kampfsport.» «Schwachkopf» ist da noch ein vergleichsweise leichter Kinnhaken.
Es ist auch bezeichnend, dass die ganze künstliche SoMe Empörung erst dann hochschwappt, wenn ein Grüner Politiker im Fokus steht. Als das Merz tat, war es irgendwie kein Thema.
zum glück wurde sie nicht schwachkopf genannt, da wär aber was los gewesen..