Es ist kaum vorstellbar, ein Deutschland ohne Angela Merkel. Seit nahezu neun Jahren beobachte ich das politische und gesellschaftliche Geschehen in Deutschland. Vieles hat sich verändert in diesen Jahren, enorm vieles sogar. Die Welt ist eine andere geworden. Europa auch. Und Deutschland sowieso.
Doch eine Konstante gab es immer in all den Jahren: Im Kanzleramt von Berlin, mit Blick auf die im Winde wehende Flagge mit dem weissen Kreuz auf rotem Grund auf dem Dach der Schweizer Botschaft, arbeitete Angela Merkel. Wenn sie nicht gerade in Brüssel, London, Paris, Washington oder Moskau war. Sie arbeitete rund um die Uhr. Das war der Eindruck. Vermutlich war es auch genau so.
Vor neun Jahren nannten sie Zeitungen und die Menschen noch «Mutti». Heute sagt das niemand mehr, obwohl in dem «Mutti» etwas Wohlwollendes mitschwingt. «Mutti» wird es richten. Das Wort steht für ein Urvertrauen, das die Leute ihrer Kanzlerin gegenüber haben.
Aber in «Mutti» klingt auch etwas Verniedlichendes nach, als ob Merkel in ihrer eigentlichen Rolle als Regierungschefin nicht für voll genommen werden würde, sondern auf ihre Rolle als Frau - oder fast schon als Wesen - reduziert wird. Das wird der mächtigsten Frau der Welt nicht gerecht.
Die Gesellschaft hat sich da gewandelt. Wenn man Merkel «Mutti» nennen will, muss man Wolfgang Schäuble Opi nennen dürfen. Auf die Idee kommt ja glücklicherweise auch niemand, auch wenn der Bundestagspräsident vermutlich tatsächlich Enkelkinder hat.
Merkel bleibt nach all den Jahren ein Mysterium. Als Schweizer Journalist an die inzwischen 67-Jährige heranzukommen, ist ziemlich schwierig. Eindrücke von der Kanzlerin lassen sich an Pressekonferenzen gewinnen.
Da wirkt sie mit wenigen Ausnahmen eigentlich immer sachlich. Egal, ob sie neben Putin, Trump, Macron oder Johann Schneider-Ammann steht. Selten wird sie emotional. 2015, Ende August, war so ein Moment, als sie ihr «Wir schaffen das» ausgegeben hatte, ohne allerdings die Konsequenzen für die Gesellschaft zu bedenken.
Oder in diesem April, als sie sich entschuldigt hatte für das von ihr verursachte Chaos rund um die Corona-Osterruhe. Zuletzt auch bei einer Rede im Bundestag, als sie über Opfer in Afghanistan gesprochen hatte.
Für direkte Interviews mit Schweizer Journalisten ist das Verhältnis zwischen Bern und Berlin vermutlich aus Sicht der Kanzlerin einfach zu unbelastet, zu unspektakulär, zu harmonisch. Klar, es gab zwischendurch auch ein paar Misstöne. Doch die fielen kaum ins Gewicht.
Damals der Streit um die Steuerdaten-CDs. Und der Dauerbrenner Flughafen-Streit und der Knatsch um den Neat-Nordanschluss. Und natürlich das schweizerische Verhältnis zur der Europäischen Union. Das Volks-Ja zur Massenzuwanderungs-Initiative sorgte auch bei Merkel für Irritation.
Und dennoch sind schweizerisch-deutsche Probleme letztlich gering, verglichen mit dem, was sich auf der Welt sonst alles zugetragen hat und zuzutragen droht.
Nicht einmal das Scheitern des Rahmenabkommens zwischen der Schweiz und der EU hat in Berlin und bei Angela Merkel für wahnsinnig viel Aufregung gesorgt. Merkel bedauert, dass sich die Schweiz tendenziell von Europa fortbewegt, das schon. Aber in Berlin nimmt man den aus deutscher Sicht etwas gar eigenbrötlerischen Kurs der Schweiz inzwischen etwas resigniert zur Kenntnis.
Obwohl Merkel für ein geeintes Europa immer gekämpft hat, aus glaubhaft höheren Motiven. Der NS-Terror vor acht Jahrzehnten ist bis heute das grosse deutsche Trauma. Die EU ist für Merkel ein Friedensprojekt, das sie mit aller Kraft verteidigt.
Nicht immer ist es ihr gelungen, Europa zusammenzuhalten. Mit ihrem Alleingang in der Flüchtlingskrise 2015 hat sie gar zu einer Spaltung der Europäischen Union beigetragen. Da wurde auch der Mythos widerlegt, Merkel, die Naturwissenschaftlerin, denke Politik von ihrem Ende her. Vielleicht denkt sie nicht alles von ihrem Ende her, sondern agiert eher intuitiv.
Den Atomausstieg setzte Merkel auch von heute auf morgen durch. Auch die Energiewende hat Folgen für Land und Leute, die Merkel kaum allesamt im Blick hatte.
Für Merkel hat sich die Schweiz von Europa in den letzten Jahren eher entfernt, während Deutschland zum Global Player aufgestiegen ist. Als Merkel 2005 im Kanzleramt das Ruder übernommen hatte, plagte Deutschland die Sorge von mehreren Millionen Arbeitslosen. Heute brummt der Motor der grössten Industrienation der EU, vor allem aber ist Deutschland unter Merkel zu einer internationalen Macht aufgestiegen. Angeschoben auch durch die Entwicklungen in den USA.
Schon unter Barack Obama zogen sich die USA von der weltpolitischen Bühne teilweise zurück. Merkel war es, die den Lead im Ukraine-Konflikt übernommen hatte. Beobachter sind überzeugt, dass die Kanzlerin eigentlich schon 2017 habe zurücktreten wollen. Doch Barack Obama habe die Kanzlerin inständig darum gebeten, in einer Welt der Trumps, Bolsonaros und Orbáns weiterzumachen - damit im Herzen Europas der Pragmatismus weiterlebt.
Zurück zum Mysterium Merkel. Wie tickt die studierte Physikerin, aufgewachsen in einer Pfarrerfamilie in der ostdeutschen Uckermark?
Wenig ist bekannt über den Menschen Merkel. In 16 Jahren Regierung blieb die Kanzlerin frei von Skandalen, sie ist auch nie der Versuchung erlegen, dem Boulevard Einblicke in ihr Privates zu erlauben, um bei den Wählern volksnäher zu wirken. Die Physikerin Merkel und ihr Ehemann Joachim Sauer, ein Quantenchemiker, wandern gern in Südtirol, im Winter machen sie Langlauf im Engadin, an Ostern erholt sich das Paar regelmässig auf der Insel Ischia.
Als Merkel einer Zeitung einmal verraten hatte, dass sie Kartoffelsuppe mag, verbreitete sich die Meldung durch die Medienportale im ganzen Land. Im Lockdown war sie in einer Video-Schaltung in ihrem Büro im Kanzleramt zu sehen. Im Hintergrund ein Sofa. Zeitungen befragten hernach Psychologen, was die Einrichtung der Schaltzentrale der Berliner Macht über die Kanzlerin verrät. Merkel privat!
Aber wie ist sie sonst, die Kanzlerin? Sie soll Humor haben, Charme, Ironie. Blitzgescheit ist sie sowieso. Und wahnsinnig viel Durchhaltevermögen besitzt die Kanzlerin. Ja, die fast übermenschliche Gabe, mit enorm wenig Schlaf auszukommen. Merkel machen Sitzungen, die bis morgens um vier Uhr dauern, scheinbar nichts aus. Sie hält so lange durch, bis die anderen Konferenzteilnehmer aus Erschöpfung in die Merkel-Pläne einwilligen, Hauptsache, die Sitzung nimmt endlich ein Ende.
So erzählt man es sich in Berlin. Und was Merkel charakterlich auszeichnet: Sie nimmt politische Angriffe scheinbar niemals persönlich. Sticheleien politischer Widersacher oder Parteifreunde perlen an ihr ab. Eine beleidigte Kanzlerin könnte ihre Politik nicht durchsetzen. Es ist allerdings nicht so, dass Merkel die Attacken vergessen würde. Irgendwann kommt die Retourkutsche.
Aber privat? Merkel ist eine Machtpolitikerin, ohne Zweifel. Und doch wirkt sie unprätentiös, bis heute. Wohnen tut sie nahe der Museumsinsel in Berlin-Mitte, mit Blick auf das Pergamonmuseum. Samstags geht die Regierungschefin, wenn sie dazu kommt, in den nahen Supermarkt. Die Auftritte wirken so unglamourös normal, dass man vergessen könnte, dass die Frau, die Wein und Haushaltspapier in ihrem Einkaufswagen zur Kasse schiebt, die mächtigste Frau im Land ist.
Merkel ist auch Geniesserin. Im Prenzlauer Berg zum Beispiel gibt es ein charmantes französisches Restaurant, in das die Kanzlerin gelegentlich einkehrt. Da gibt es edle Weine, guten Käse, Hummer und Ochsenkotelett. Gute Qualität, aber kein exquisiter Laden mit exorbitanten Preisen.
Ich kann das Mysterium Merkel nicht entschlüsseln und frage nach. Bei einem langjährigen Weggefährten der Kanzlerin aus der CDU, seit Jahrzehnten in der Partei. Auf die Frage, wer Merkel wirklich ist und wie sie tickt, antwortet er kurz und bündig:
In ein paar Monaten wird Merkel von der grossen Politbühne abtreten. Es kann noch eine Weile dauern, bis in Berlin wirklich eine neue Regierung ihre Aufgabe aufnimmt. So lange wird Merkel kommissarisch weiter regieren. Politisch wird sich Merkel zurückziehen, das hat sie immer wieder versichert. Vielleicht wird sie Gastdozentin an Universitäten. Die Hörsäle wären bestimmt brechend voll.
Ob die Deutschen Angela Merkel vermissen werden, steht in den Sternen. Die Kanzlerin hatte ihre Stärken vor allem auf dem internationalen Parkett. Innenpolitisch ist in Deutschland so einiges stillgestanden. Die Digitalisierung, offene Fragen der Rentensicherheit, die überbordende Bürokratie. Wird ihr Nachfolger oder ihre Nachfolgerin den Mut zu wichtigen Reformen aufbringen, wird sich die Trauer über ihren Abgang bald legen.
Ein fester Platz in den Geschichtsbüchern ist Merkel jetzt schon sicher. Nicht nur deshalb, weil sie die erste Frau an der Spitze Deutschlands war. Auch, weil sie eine ganze Generation geprägt hat. Und ein Land. Und Europa.
Der Autor ist seit 2013 Deutschland-Korrespondent von CH Media. Er ist 47 Jahre alt und lebt in Berlin. (aargauerzeitung.ch)
Aber für Europa und die Stabilität war sie die wichtigste Politikerin nach 1990, sie hat Europa durch manch schwere Krise gebracht, Finanzkrise, Schuldenkrise, Russlands Angriffe auf die Ukraine, Flüchtlingskrise, amerikanischer Trumpismus, usw. usf. und sie hat dabei meistens schlussendlich ein gutes Ergebnis erzielt und vor allem hat sie IMER Stabilität ausgestrahlt und das war wichtig.
Insofern wird sie fehlen.