Über die Folgen des deutschen Wahlergebnisses wird in diesen Tagen reichlich spekuliert. Derzeit ist nur eines sicher: Für die Christdemokraten und ihre bayerischen Freunde sieht es eher düster aus. Fragt man drei Abgeordnete der Union, für wie wahrscheinlich sie eine Jamaika-Koalition noch halten, lauten die drei Antworten: «30 Prozent», «25 Prozent», «20 Prozent». Ein ranghoher Parteifunktionär sagt: «Die ganze Partei ist doch abgewirtschaftet. Viele von uns wollen einfach nicht ihre Posten räumen.»
Die Union liegt bei der Bundestagswahl mit ihren 24.1 Prozent knapp hinter dem Wahlsieger SPD mit 25.7 Prozent. Den Gesetzen der Gewohnheit zufolge müsste Olaf Scholz jetzt anfangen, eine Koalition zu schmieden. Doch die Gewohnheit wird dieses Mal durchbrochen, und zwar ausgerechnet von den künftigen Wunschkoalitionspartnern: der FDP und den Grünen.
Die Spitzen der beiden Parteien haben sich bereits am Dienstagabend getroffen und die Öffentlichkeit darüber per Selfie informiert. Am Freitag treffen sich Grüne und FDP noch einmal in grösserer Runde, dann soll es verstärkt um Inhalte gehen.
Ab dem Wochenende gehen die bilateralen Treffen weiter: Union und FDP werden früher oder später miteinander sprechen. Fest steht bereits, dass sich die SPD am Sonntagnachmittag mit der FDP und abends dann mit den Grünen trifft. Auch für ein Gespräch mit der Union sind die Grünen offen, es wird aber frühestens nächste Woche stattfinden. Verhandlungen zwischen drei Parteien sind noch nicht terminiert.
Und dann? Ist es wirklich ausgeschlossen, dass sich FDP und Grüne, die neuerdings als «Zitrus-Koalition» bezeichnet werden, doch noch der Union anschliessen und es zum Jamaika-Bündnis kommt? Nein. Auch wenn die Ampel wahrscheinlicher erscheint. Stand heute.
Drei Szenarien sind denkbar:
Die SPD hat bereits zu Gesprächen mit Grünen und FDP eingeladen. Zumindest getrennt wird man sich nun am Wochenende treffen. Und die Sozialdemokraten haben die besten Argumente auf ihrer Seite, weshalb das Szenario derzeit am wahrscheinlichsten erscheint: Die SPD ist der Wahlgewinner. Und Umfragen ergeben, dass die Bürger Olaf Scholz gerne als Kanzler sähen.
Sogar Armin Laschet, der zunächst noch von einem «Auftrag» für die Union gesprochen hatte, sagt inzwischen nur noch, dass man ein «Angebot» für eine Regierung mache. Die Grünen lassen ihre Vorliebe für die SPD deutlich erkennen. Annalena Baerbock sprach am Mittwoch davon, dass es einen «Auftrag für eine progressive Regierung» gebe. Progressiv, so werden die linken Parteien bezeichnet – nicht die Union.
Die Ampelkoalition ist auch deshalb wahrscheinlich, weil die SPD – im Gegensatz zur Union – politisch funktionsfähig ist: Olaf Scholz ist mit seinem Wahlsieg so mächtig wie nie, er hat die klare Prokura, Verhandlungen zu führen. Und hat seiner Partei auch bereits angekündigt, die nötige Beinfreiheit zu beanspruchen.
SPD und Grüne haben zudem grosse inhaltliche Überschneidungen, beide Parteien drängen auf eine linkere Politik. Und beide Parteien sind klug genug, um zu verstehen, dass mit der FDP ein Partner an Bord wäre, der den vermuteten «Linksrutsch» abfedern und so das Bündnis für die Breite der Bevölkerung tragbar machen könnte. Entsprechend werden sie auf die Liberalen zugehen.
Es deutet nicht vieles darauf hin, doch trotzdem ist es denkbar: 2017 hat sich bereits gezeigt, wie schnell Gespräche zwischen Parteien scheitern können. Damals liess Lindner ein Jamaika-Bündnis aus Union, Grünen und FDP platzen. Dieses Mal ist Jamaika eine der Alternativen, falls sich die Ampel-Partner nicht einigen können.
Das ist nicht ganz ausgeschlossen. Die SPD hat eine programmatisch linke Parteiführung. Und in den Bundestag sind viele Abgeordnete aus der SPD-Jugendorganisation eingezogen, den ziemlich linken Jusos. Zu viele Zugeständnisse an die FDP darf Scholz also auch nicht machen. Allerdings kommt ihm zugute, dass eine rot-grün-rote Koalition keine Mehrheit hat. Eine Ampel ist also auch für die linkeren Genossen die beste Lösung.
In der Union hofft man naturgemäss trotzdem auf ein Scheitern der Ampel-Gespräche. Die Wegbereiter der alternativen Jamaika-Koalition wären dann Armin Laschet (sofern er bis dahin noch im Amt ist) und Christian Lindner. Beide haben bereits die schwarz-gelbe Regierung in Nordrhein-Westfalen ausgehandelt. Man kennt sich, man schätzt sich.
Ob Laschet dann jedoch wirklich Kanzler wird, gilt selbst in der Union als völlig offen. Möglich wäre auch, dass Markus Söder sich von den Grünen und der FDP wählen lässt. Auch dieses Szenario kursiert seit einigen Tagen in der Union. Die Grünen zeigen sich zwar offen für Gespräche mit der Union. Aber eben auch alles andere als euphorisch. Als progressive Regierung können sie ihren Anhängern ein solches Bündnis schwerlich verkaufen.
Und was, wenn beides nicht funktioniert? Dann könnte die grosse Koalition ein unverhofftes Comeback feiern. Diesmal unter umgekehrten Vorzeichen: mit einer SPD als Kanzlerpartei, und einer Union als kleinerem Partner.
In der SPD wollten das schon am Wahlabend diverse Vertreter nicht ausschliessen. Auch wenn es wahrlich nicht die Lieblingsoption ist. Aber mit einem sozialdemokratischen Kanzler, so wohl die Überlegung, würde die SPD zumindest nicht so verlässlich zusammenschrumpfen wie in den letzten Merkel-Grokos.
Überzeugt werden müsste da schon eher die Union, vielleicht wieder vom Bundespräsidenten, damit es nicht zu Neuwahlen kommt. Aber vielleicht kommt es auch gar nicht so weit. Denn in der Union wird mittlerweile vielen klar, was das eigentlich ist: Opposition. Man kannte es ja die vergangenen 16 Jahre nicht. Opposition heisst eben in der Regel keine Dienstwagen, keine Ministerposten, keine glamourösen Auslandsreisen.
Obwohl es in der Union noch vor drei Monaten als ausgeschlossen galt, als Juniorpartner mitzuregieren, könnte es jetzt die letzte Chance sein.