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Dennis in Deutschland

Besuch in Schuld vor den Bundestagswahlen: Wählen jetzt alle grün?

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So geht es den Flutopfern im deutschen Katastrophendorf Schuld heute

Die Überschwemmungen im westdeutschen Ahrgebiet haben in den Dörfern rund um den Fluss ein kollektives Trauma ausgelöst. Doch den Klimawandel sieht man nicht als Hauptursache.
22.09.2021, 09:2024.09.2021, 09:19
Dennis Frasch
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Tausende Jeans, T-Shirts, Hemden, Schuhe und Jacken in allen Grössen und Farben liegen fein säuberlich zusammengefaltet auf den Bänken der Dorfkirche in Schuld. Im oberen Stock gibt es Lebensmittel: Milch, Konserven, Teigwaren, Reis. Die heilige St.Gertrud wacht auf dem Vorplatz über gestapelte Kisten von Getränken. Alles Spenden, aus ganz Deutschland.

Getränkekisten, bewacht von St.Gertrud.
Getränkekisten, bewacht von St.Gertrud.bild: watson/dfr

Spenden für die Bewohner von Schuld, die alles verloren haben, die auch neun Wochen nach der Flut auf Zuwendungen angewiesen sind.

Es war der 14. Juli 2021, am Jahrestag des Sturmes auf die Bastille in Frankreich, als um 21 Uhr die Ahr über die Ufer trat. Aus einem Bach wurde ein acht Meter hoher, reissender Strom, der alles in seinem Weg verschlang. 50 Menschen mussten von den Hausdächern gerettet werden, in anderen Dörfern haben es einige nicht geschafft. Wie zum Beispiel in Sinzig, ein Ort flussabwärts, wo 12 Menschen in einem Behindertenheim ertrunken sind.

Wie geht es den Menschen in Schuld heute? Wie weit ist man beim Wiederaufbau, und: Wählen jetzt alle die Grünen?

Krisenplanung in der Kirche

Ich treffe Christina Müller-Lettau vor der Dorfkirche. Sie sitzt auf einer Festbank und raucht. Aus Bonn hat man sie abgeordnet, um dem Ortsbürgermeister Helmut Lussi zur Seite zu stehen. Lussi selbst stösst später dazu. Er ist gerade am Bagger fahren.

Hier wird der Wiederaufbau Schulds vorangetrieben.
Hier wird der Wiederaufbau Schulds vorangetrieben.bild: watson/dfr

Die Kirche ist kurzerhand zur Krisenzentrale umfunktioniert worden. Mittlerweile steht sogar ein Container auf dem Vorplatz, der als Büro genutzt wird. Hier wird also der Wiederaufbau eines ganzen Dorfes geplant. Brücken, Stützwände, Strassen: Alles muss neu gebaut werden. 15 Millionen Euro beträgt der Schaden an der Infrastruktur, die privaten Häuser nicht mit eingerechnet.

Vor neun Wochen hat es hier noch anders ausgesehen, erzählt Müller-Lettau. «Niemand hat hier mit einer Flut dieses Ausmasses gerechnet. Und wir sind uns Hochwasser gewohnt.» Ein Pegelstand von vier Metern passiere immer wieder mal, «da werden die Wiesen ein bisschen nass», aber der «Tsunami» im Juli sprengte alle Dimensionen.

Dabei hatten die Bewohner von Schuld noch Glück. Die Flut kam bereits um 21 Uhr, es war noch hell, die Leute noch wach. Das Netz ist im ganzen Gebiet zusammengebrochen, die Bewohnerinnen, welche es noch rechtzeitig aus den Häusern schafften, retteten sich zu den Nachbarn, welche am Hang wohnen.

Blick auf den östlichen Teil Schulds.
Blick auf den östlichen Teil Schulds. bild: watson/dfr

«Wir haben zwar Sirenen und Meldesysteme hier, aber die nützen uns nicht viel, wenn das Netz und der Strom zusammenbricht», sagt Müller-Lettau. Es dauerte vier Tage, bis die ersten Helfer von ausserhalb kamen.

Wir laufen zum Hotel Schäfer, gleich gegenüber der Kirche, und blicken auf das Dorf. Hier stand Müller-Lettau, als das Wasser kam. Sie starrt ungläubig auf den staubigen Platz, wo vor kurzem noch drei Häuser standen und schluckt schwer. Über die Ereignisse zu sprechen, fällt ihr immer noch nicht leicht.

Während der Flut.
Während der Flut.bild: zvg
Nach der Flut.
Nach der Flut.bild: watson/dfr

Die Flut hat ein kollektives Trauma ausgelöst. Welchem Gespräch man auch zuhört, es geht immer um die Flut. Um den Wiederaufbau. Um Schadenszahlungen. Wieder und wieder erzählt man sich, was in dieser Nacht passierte, dass die Sirenen nicht losgingen, wie alle von dem «Tsunami», wie man es hier nennt, überrascht wurden. Aber auch von der überwältigenden Solidarität in der Gesellschaft. Von Bauern, die Tag und Nacht mit ihren Traktoren die Müllberge von den Strassen beseitigten. Von Helferteams aus ganz Europa, die in die Region gepilgert sind, um mit anzupacken.

Die Solidarität hört beim Privatbesitz auf

Auf dem Weg ins Dorf passieren uns haufenweise Lastwagen und Bagger. Der aufgewirbelte Staub legt sich wie ein feines Tuch auf Strassen, Autos und Dächer.

Auch das Landgasthaus hats erwischt.
Auch das Landgasthaus hats erwischt. bild: watson/dfr

«Wir hatten alles hier in Schuld. Kindergarten, Schule, Lebensmittelladen mit eigener Fleischtheke, einen KFZ-Mechaniker, eine Bäckerei, eine Pizzeria», sagt Müller-Lettau. Man schätzte die Autonomie im Dorf. Deshalb habe man sich auch nicht im Stich gelassen gefühlt von der Regierung in Rheinland-Pfalz oder in Berlin. «Wir haben uns schon immer selbst geholfen. So sind wir uns das gewohnt».

Die Zeiten der Autonomie in Schuld sind vorerst vorbei.
Die Zeiten der Autonomie in Schuld sind vorerst vorbei.bild: watson/dfr

Elf Häuser wurden bei der Flut komplett zerstört, viele weitere beschädigt. 144 Personen leben zurzeit bei Freunden oder Familie in anderen Dörfern. Ob man die zerstörten Häuser wieder aufbauen kann, ist nicht klar. Bauland für 25 Häuser gäbe es im Dorf, jedoch befindet sich alles im Privatbesitz. Die Eigentümer, oft ältere Leute, wollen nicht verkaufen. Die Solidarität hört beim eigenen Geldbeutel auf.

Wir begeben uns zur Ahr. Harmlos zieht sie durchs Dorf, keine 50 Zentimeter hoch. Ich will von Müller-Lettau wissen, ob man nicht Angst hat, dass sich die Tragödie schon bald wiederholt. Die Flutkatastrophe ist zu einem zentralen Thema im Wahlkampf geworden, die Grünen warnen immer wieder, dass diese Tragödie kein Einzelfall bleibe, wenn man sich nicht um den Klimaschutz kümmere.

Die gebürtige Kölnerin winkt ab. Das Problem sei nicht der Klimawandel, sondern die schlechte Vorbereitung. Rückhaltebecken für die Nebenflüsse der Ahr müssen gebaut werden, dann passiere dies nicht noch einmal. «Aber das haben wir hier verschlafen. Wir sind nicht in der Schweiz, es dauert hier alles so lange. Bis wir von der Politik mal gehört werden, Mittel bereitgestellt werden, das dauert ewig», sagt Müller-Lettau.

Die Bubenley-Halle wurde vor der Flut frisch renoviert. Allerlei Veranstaltungen fanden hier statt. Heute ist nichts mehr davon übrig.
Die Bubenley-Halle wurde vor der Flut frisch renoviert. Allerlei Veranstaltungen fanden hier statt. Heute ist nichts mehr davon übrig.bild: watson/dfr

Dass sich dies mit einer Wahl der Grünen ändern würde, darüber will sie nicht spekulieren. An einen Wahlerfolg der Grünen in der Region glaubt sie allerdings nicht. «Die Grüne Partei gibts es hier erst seit einem halben Jahr. Zudem ist der Nürburgring gleich um die Ecke. Es gibt hier ein Sprichwort: ‹Der Eifeler rund um den Nürburgring fährt jede Strecke mit dem Auto›. Ich glaube, die grüne Idee kommt hier nicht sehr gut an.»

Auf dem Weg zurück relativiert sie ihre Aussagen ein bisschen. Naturschutz werde hier schon immer betrieben. Das würde den Ort erst lebenswert machen. Auch kaufen sich immer mehr Menschen ein E-Bike, um von A nach B zu kommen. Trotzdem: Für ein Umdenken sei es hier noch zu früh.

«Das Wasser hat uns zusammengeschweisst»

Wir sind zurück bei der Kirche und auch Ortsbürgermeister Lussi ist vom Baggerfahren zurückgekehrt. Er raucht. Augenringe untermalen seinen müden Blick. Seit zwei Monaten hört sein Telefon nicht auf zu klingeln. Auch jetzt werden wir alle fünf Minuten von einem Anrufer unterbrochen. «Nach neun Wochen verliert man langsam den Mut. Bei diesem Job altert man schnell», sagt Lussi und steht auf, um zu telefonieren.

Christina Müller-Lettau und Helmut Lussi arbeiten seit neun Wochen am Wiederaufbau von Schuld.
Christina Müller-Lettau und Helmut Lussi arbeiten seit neun Wochen am Wiederaufbau von Schuld.bild: watson/dfr

Eine Helferin läuft an uns vorbei, mit einem grossen Sack gespendeter Kleider. «Wissen Sie, vor der Flut hätte ich gesagt, dass die Leute hier ein Haufen Egoisten sind. Mein Haus, mein Pferd, mein Gärtchen», sagt Müller-Lettau. «Doch die Flut hat das Gute in den Menschen herausgebracht. So eine Solidarität habe ich noch nie erlebt. Wo man sich früher aus dem Weg gegangen ist, unterhält man sich nun. Eine tolle Nachbarschaft ist daraus entstanden, das Wasser hat uns zusammengeschweisst.»

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7 Kommentare
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Nordkantonler
22.09.2021 12:46registriert September 2020
"Wir sind nicht in der Schweiz, es dauert hier alles so lange."

Naja, da hat man der Dame wohl ein paar Worte in den Mund gelegt oder sie wollte dem Interviewer schmeicheln. In Mitholz hat es auch 70 Jahre bis zum Gehör gedauert, und vermutlich wird man in weiteren 50 Jahren auch feststellen, dass das "problemlose" Verklappen von Munition in den Schweizer Seen doch nicht so problemlos war.

Bei aller Organisiertheit und Gründlichkeit, das schnelle Durchsetzen unangenehmer Entscheidungen ist nicht unbedingt die Stärke der halbdirekten Demokratie der Schweiz.
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