Gesten haben in der Politik oft eine grosse symbolische Wirkung. Beim Besuch der deutschen Aussenministerin Annalena Baerbock in der Ukraine am Dienstag gab es davon reichlich. In der Kirche des Heiligen Andreas in Butscha zündete sie eine Kerze an. Dort waren Opfer russischer Gräueltaten in einem Massengrab verscharrt worden.
Danach fuhr Baerbock in den weitgehend zerstörten Kiewer Vorort Irpin, wo sie trotz Sicherheitsbedenken ein zerbombtes Haus betrat. «Sie sind eine sehr tapfere Politikerin», sagte Bürgermeister Olexander Markuschyn. «Und sie sind ein sehr tapferes Land», erwiderte Baerbock, die von Generalstaatsanwältin Iryna Wenediktowa begleitet wurde.
Das damit verbundene Signal war eindeutig: Die russischen Kriegsverbrechen in der Ukraine sollen nicht ungesühnt bleiben. «Das sind wir den Opfern schuldig», sagte die Aussenministerin. Später in Kiew hisste sie eigenhändig die schwarz-rot-goldene Flagge vor der deutschen Botschaft, die mit einer Minimalbesetzung wieder eröffnet wurde.
Weiter traf sie sich mit Amtskollege Dmytro Kuleba und Präsident Wolodymyr Selenskyj. Sie kündigte an, dass man in wenigen Tagen mit der Ausbildung ukrainischer Soldaten an der modernen Panzerhaubitze 2000 beginnen werde. Und schliesslich besuchte Baerbock die Gedenkstätte in Babyn Jar, wo die Nazis 1941 mehr als 30’000 Juden ermordet hatten.
Es war eine Reise voller Symbolik, die von den Ukrainern wohlwollend zur Kenntnis genommen wurde. «Streit zwischen Kiew und Berlin – war da was?», fragte der «Spiegel».
Das Verhältnis zwischen den beiden Ländern war nach dem russischen Überfall ziemlich zerrüttet. Bei den Sanktionen gegen Moskau trat die deutsche Regierung auf die Bremse. Zu stark hatte sich Europas führende Wirtschaftsmacht von russischer Kohle, Öl und Gas abhängig gemacht. Auch von der Lieferung schwerer Waffen wollte Deutschland nichts wissen.
Der Tiefpunkt wurde Mitte April erreicht, als Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier von einem geplanten Besuch in Kiew ausgeladen wurde. Er hatte sich in der Vergangenheit als Russland-Freund profiliert. Als Bundeskanzler Olaf Scholz deshalb nicht nach Kiew reisen wollte, bezeichnete ihn der ukrainische Botschafter Andrij Melnyk als «beleidigte Leberwurst».
Melnyk ist ein höchst undiplomatischer Diplomat, was der Beziehung nicht genützt hat. Seither aber kam es zu einer spürbaren Entspannung. Die Ampel-Regierung liefert nun doch schwere Waffen, und sie arbeitet mit Hochdruck daran, sich von der russischen Energie abzuwenden, «und zwar für immer», wie Annalena Baerbock am Dienstag betonte.
Auch auf der persönlichen Ebene haben sich die Wogen geglättet. Es kam zu einer telefonischen Aussprache zwischen Selenskyj und Steinmeier. Einem Besuch des Bundespräsidenten dürfte nichts mehr im Wege stehen. Nach Kiew gereist sind letzte Woche bereits CDU-Chef Friedrich Merz sowie Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD).
Nun folgte mit Aussenministerin Annalena Baerbock erstmals ein Regierungsmitglied. Ihre starken Gesten und mutigen Auftritte waren auch Ausdruck einer bemerkenswerten Entwicklung. Noch im letztjährigen Bundestagswahlkampf hatte sie als Kanzlerkandidatin der Grünen überfordert gewirkt und Zweifel an ihrer Eignung für höhere Aufgaben geweckt.
Als Aussenministerin in der Ampel-Regierung mit SPD und FDP aber hat die 41-Jährige rasch Tritt gefasst. Eine Duftmarke setzte sie beim Treffen mit dem russischen Amtskollegen Sergej Lawrow in Moskau. Baerbock gelang es, dem unzimperlichen und hartgesottenen Politprofi Paroli zu bieten. Den Krieg verhindern aber konnte sie nicht.
Seit in der Ukraine gebombt und geschossen wird, haben Baerbock und ihre Partei eine steile Lernkurve absolviert. Die Grünen haben ihre Wurzeln unter anderem in der Friedensbewegung der 1980er Jahren. Diesen Hardcore-Pazifismus bekam etwa der frühere Aussenminister Joschka Fischer noch auf recht handgreifliche Weise zu spüren.
Ähnliches muss Annalena Baerbock nicht befürchten, im Gegenteil. Keine deutsche Partei positioniert sich so deutlich gegen den russischen Aggressor wie die Grünen. Der frühere Fraktionschef Anton Hofreiter profiliert sich in Sachen Waffenlieferungen als veritabler Superfalke. Dabei wird der Biologe aus München zum linken Parteiflügel gezählt.
Für Annalena Baerbock zahlt sich das persönlich aus. In der jüngsten Ausgabe des ZDF-Politbarometers hat die Aussenministerin den als zögerlich und führungsschwach empfundenen SPD-Kanzler Olaf Scholz auf der Beliebtheitsliste überholt. Sie liegt nun auf Platz 2. Die klare Nummer 1 ist Parteikollege und Wirtschaftsminister Robert Habeck.
Er bemüht sich, die deutsche Wirtschaft im Rekordtempo von der Abhängigkeit von russischem Öl und Gas zu lösen und gleichzeitig eine Rezession zu verhindern. Was vom Wahlvolk offensichtlich honoriert wird. Das könnte für die Kanzlerfrage bei den Grünen eine Rolle spielen, auch wenn die nächste Bundestagswahl noch mehr als drei Jahre entfernt ist.
Vorerst kann «Annalena Superstar» ihre Rolle als «Eisbrecherin» im Verhältnis zur Ukraine auskosten. Für deutsche Medien ist klar: Mit ihrer Reise spielte sie auch die Vorhut für Bundeskanzler Scholz. Seine Ankunft in Kiew ist nur noch eine Frage der Zeit.
Menel
War das wirklich so oder wurde es so oft wiederholt, bis es die meisten glaubten?
Päule Freundt
Frau Baerbock überrascht und zeigt, dass man in einem Amt wachsen kann. Genau diese Fähigkeit würde ich mir von der einen oder anderen Person in unserem Bundesrat erhoffen.
SBRUN