Die deutsche Wählerschaft sehnt sich nach einer Alternative. Und findet sie bei der Alternative für Deutschland (AfD). In den jüngsten Umfragen kommt sie auf 20 Prozent. Damit ist die AfD bundesweit die zweitstärkste Kraft und rückt der CDU/CSU auf Platz eins immer näher. In Teilen Ostdeutschlands steht sie sogar klar an der Spitze.
Kürzlich wurde in Thüringen der erste AfD-Landrat und in Sachsen-Anhalt der erste AfD-Bürgermeister in Deutschland gewählt. Die Reaktionen auf den rasanten Aufstieg einer rechtsextremen und russlandfreundlichen Partei, die eine Auflösung der EU fordert und teilweise vom Verfassungsschutz beobachtet wird, reichen von Schock bis Ratlosigkeit.
Der Erfolg im Osten hat strukturelle Ursachen. Viele fühlen sich gegenüber den «Wessis» als Menschen zweiter Klasse und «fremdeln» mit der Demokratie. Doch es gibt auch allgemeine Gründe. Viele Deutsche haben genug von den Dauerkrisen mit Corona, Ukraine-Krieg und Inflation, für die die etablierten Parteien kein Rezept zu finden scheinen.
Die Ampel-Regierung in Berlin fällt vor allem auf durch den permanenten Streit zwischen FDP und Grünen. Das beste, aber nicht einzige Beispiel ist das umstrittene Heizungsgesetz. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) schaut dem Treiben meist (zu) lange zu. Er will seine beiden «Juniorpartner» nicht gegeneinander ausspielen, wirkt dabei aber führungsschwach.
Bei den Unionsparteien sieht es nicht besser aus. CDU-Chef Friedrich Merz hat die in ihn gesetzten Hoffnungen nicht erfüllt. Vielmehr sehen sich die Kritiker bestätigt, die ihn stets für überschätzt hielten. Das zeigt sich in den Umfragen. Während Kanzler Scholz zumindest bei der SPD-Basis beliebt ist, kommt Merz selbst beim eigenen Anhang schlecht weg.
Diese Woche hat er den CDU-Generalsekretär ausgewechselt, doch die Union hat ein strukturelles Problem. Es schwelt ein Streit zwischen den Befürwortern einer stramm konservativen Ausrichtung, mit der die AfD ausgebremst werden soll, und der immer noch beachtlichen «Merkel-Fraktion», die den Mitte-Kurs der Ex-Kanzlerin fortsetzen will.
Die Konflikte in und unter den etablierten Parteien sind der perfekte Nährboden für den Aufstieg der AfD. Analysten sind sich weitgehend einig, dass sie vor allem Proteststimmen generiert und nur ein geringer Teil der Deutschen ihre rechtsradikalen Inhalte teilt. Nun aber droht den Umfrage-Höhenfliegern Gefahr vom anderen Ende des politischen Spektrums.
Dort befindet sich die Linke ebenfalls in einem Zustand notorischer Zerstrittenheit. Der Konflikt entzündet sich vor allem an Sahra Wagenknecht, dem einstigen Aushängeschild der Partei. Sie hat sich zuletzt vor allem als Befürworterin eines raschen «Friedens» zwischen Russland und der Ukraine profiliert, womit sie durchaus auf Parteilinie liegt.
Dennoch findet seit einiger Zeit eine Entfremdung statt. Der Konflikt entzündet sich an einem anderen Reizthema, der Migration. Nun könnte er sich verschärfen, denn der Parteivorstand entschied diese Woche, die Seenotretterin und Klimaaktivistin Carola Rackete als Spitzenkandidatin der Linken für die Europawahl 2024 zu nominieren.
In Interviews hat sie gefordert, Europa müsse jeden reinlassen, der reinwolle. Wagenknecht steht dazu im diametralen Gegensatz, wie sie der «Südwest-Presse» erklärte: «Wir können das Problem der Armut auf der Welt nicht durch Migration lösen.» Sie führe zu Überforderung und Empörung: «Deshalb müssen wir Zuwanderung begrenzen.»
Dieser Satz könnte von der SVP stammen. Oder der AfD, was für diese gefährlich werden könnte, denn Sahra Wagenknecht liebäugelt mit der Gründung einer eigenen Partei: «Ich würde mich freuen, wenn all den Wählern, die sich zurzeit durch keine Partei mehr wirklich vertreten fühlen, bald wieder ein seriöses politisches Angebot zur Verfügung steht.»
Der Entscheid falle «noch in diesem Jahr», sagte die 54-Jährige der «Südwest-Presse». Einiges deutet darauf hin, dass es zum «grossen Knall» kommen wird, so der Sender ntv. Vor einem Monat forderte die Parteispitze der Linken Wagenknecht auf, ihr Bundestagsmandat niederzulegen. Sie denkt jedoch nicht daran und konterte mit einer scharfen Gegenattacke.
Dutzende Mandatsträger der Linkspartei haben sich gemäss ntv bereit erklärt, in eine Wagenknecht-Partei zu wechseln. Darunter befinden sich prominente Namen wie der frühere Bundesvorsitzende Klaus Ernst. Und selbst die amtierende Fraktionschefin im Bundestag, Amira Mohamed Ali, gilt als Wagenknecht-Unterstützerin.
Eine solche Neugründung würde nicht nur der Linken, sondern auch der AfD schaden. Gemäss Umfragen könnten 60 Prozent ihrer heutigen Unterstützer zu Sahra Wagenknecht «überlaufen». In Thüringen wäre sie laut einer aktuellen Erhebung mit 25 Prozent auf Anhieb stärkste Kraft, vor der vom rechtsradikalen Parteizugpferd Björn Höcke geführten AfD.
Das eröffnet interessante Optionen für die Europawahl, bei der die Fünf-Prozent-Hürde nicht greift, und für die Landtagswahlen in den drei ostdeutschen AfD-Hochburgen Brandenburg, Sachsen und Thüringen im Herbst 2024. Eine Wagenknecht-Partei könnte der AfD kräftig in die Suppe spucken. Wirklich gefährdet wären die Rechtsextremen aber kaum.
Für die Linkspartei hingegen wären die Perspektiven düster. Sie hat es bei der Wahl 2021 nur dank drei Direktmandaten erneut in den Bundestag geschafft. Bei einer Spaltung würde sie wohl den Fraktionsstatus und damit Einfluss und Geld verlieren. Langfristig steht die Existenz der aus der DDR-Einheitspartei SED hervorgegangenen Linken auf dem Spiel.
Nicht erbaulich sind die Aussichten für Deutschland insgesamt. Mit AfD und Wagenknecht hätte das Land «eine rechts- und eine linksradikalpopulistische Partei», folgert ntv. Das würde die Bildung von tragfähigen Regierungen weiter erschweren. Man kann nur hoffen, dass sich die Ampel-Koalition zusammenrauft und das Land aus dem Krisenmodus findet.
Ob das die andern haben bezweifle ich. Sie haben aber den Vorteil, dass diese Krisen ihnen nicht angekreidet werden können.
Es kommen harte Jahre für die Demokratien.