Der Landkreis Sonneberg im deutschen Bundesland Thüringen ist einer der kleinsten in Deutschland, aber das Ergebnis der Stichwahl am Sonntag wirft Wellen in der gesamten Bundesrepublik: Zehn Jahre nach der Gründung der Partei hat zum ersten Mal ein AfD-Politiker ein kommunales Spitzenamt erobert. Der Landtagsabgeordnete und Rechtsanwalt Robert Sesselmann setzte sich in der Stichwahl gegen den amtierenden Landrat Jürgen Köpper (CDU) durch – obwohl dieser auch von den Linken, den Grünen, der SPD und der FDP unterstützt wurde.
Und die AfD in Thüringen gilt nicht gerade als gemässigt: Ihr Landeschef ist Björn Höcke, der als Galionsfigur des extremen rechten Flügels der Partei gilt. Höcke und der Thüringer Landesverband der AfD werden vom deutschen Verfassungsschutz als erwiesen rechtsextrem eingestuft und beobachtet.
Die Wahl des AfD-Politikers zum Landrat ist nicht wirklich eine Überraschung. Schon seit Monaten befindet sich die AfD im Höhenflug; die Partei hat in Umfragen die Grünen und sogar die SPD überholt. Im Osten Deutschlands ist sie seit Herbst des vergangenen Jahres die stärkste politische Kraft, ebenfalls laut Umfragen.
Woran liegt das? Für die CDU ist es klar, dass die Politik der aktuellen Regierungskoalition in Berlin, der sogenannten Ampel aus SPD, FDP und Grünen, für die Misere verantwortlich ist. Die offensichtliche Zerstrittenheit innerhalb der Ampel, deren Parteien politisch stark divergieren, dürfte den Erfolg der AfD wohl tatsächlich befeuern – ursächlich dafür aber ist sie kaum. Und auch der Krieg in der Ukraine, der den Deutschen eine kräftige Inflation bescherte und die Angst vor einem Blackout schürte, kann das Umfragehoch der Partei nur teilweise erklären.
Die AfD ist nicht erst gestern stark geworden: Die 18-Prozent-Marke erreichte sie in Umfragen schon 2018. Die tieferen Ursachen für ihren Aufstieg dürften also eher anderswo zu suchen sein. Da ist zum einen die unterschiedliche Nachkriegsgeschichte der BRD und der DDR. Die unterscheidet sich hauptsächlich darin, dass die DDR eine Diktatur war, im Vergleich zur BRD viel weniger Gastarbeiter anwarb und wirtschaftlich weniger prosperierte als der westliche Nachbar.
Diese Faktoren führten zu einer unterschiedlichen Entwicklung des politischen Bewusstseins in den neuen Bundesländern nach der Wiedervereinigung. Gefühle der Benachteiligung mischten sich mit xenophoben Strömungen, die – wie es oft der Fall ist – umso stärker ausgeprägt waren, je weniger fremdländisch aussehende Menschen überhaupt im Alltag präsent waren. Zahlreiche Leute verloren ihren Job, ihre soziale Sicherheit. Und es setzte eine enorme Abwanderung von jungen Leuten ein – zurück blieben, zugespitzt gesagt, die Alten und die Abgehängten.
Davon profitierte zunächst die Linke (zunächst als SED-Nachfolgepartei PDS), während die parteigebundene extreme Rechte – etwa die NPD – kaum Wahlerfolge erzielen konnte. Rechtsextreme fielen durch Pogrome auf, nicht durch politische Programme. Mittlerweile befindet sich die Linke aber auch im Osten im Niedergang, und die AfD hat sich als Protest- und «Anti-System»-Partei etabliert.
Zum anderen rückte die CDU in der Merkel-Ära etwas nach links – zumindest in den Jahren, als sie eine Grosse Koalition mit der SPD bildete (2005 bis 2009 und 2013 bis 2021). Dies bot der AfD, die ursprünglich als wirtschaftsliberale und gesellschaftskonservative Anti-Euro-Partei gegründet worden war, genügend Raum zur Entfaltung. In den Achtzigerjahren, als sich die rechtsextremen Republikaner im Aufwind befanden, hatte der CSU-Vorsitzende Franz Josef Strauss noch die Losung ausgegeben: «Rechts von der CDU/CSU darf es keine demokratisch legitimierte Partei geben.»
Obwohl die Politik der Grossen Koalition nicht betont migrationsfreundlich war, dürfte die Entscheidung der Bundeskanzlerin im Sommer 2015, eine grosse Zahl von Flüchtlingen aufzunehmen («Wir schaffen das!»), der AfD mittelfristig starken Zuwachs beschert haben. Es gelang der Partei, Frust und Unmut über die Politik der Grossen Koalition auf das Flüchtlingsthema zu kanalisieren und in Wählerstimmen umzumünzen.
In der Opposition rückte die CDU wieder nach rechts und übernahm zum Teil Themen und Rhetorik der AfD. Doch dieser «konservative Populismus» vermochte die AfD nicht einzudämmen; ihre Wähler zogen das Original der Kopie vor, die sie als opportunistisch wahrnahmen. Besonders im Osten Deutschlands arbeiten CDU-Politiker auf kommunaler Ebene immer öfter mit AfD-Vertretern zusammen; damit wird die sogenannte Brandmauer, die die anderen Parteien gegen die AfD errichtet haben, zusehends durchlässig.
Dieser Versuch, die AfD hinter einem «Cordon sanitaire» zu isolieren, funktionierte lange ziemlich gut. Auch in anderen Ländern gab und gibt es solche politischen Brandmauern, denn der Aufstieg der AfD ist kein isoliertes deutsches Phänomen. Der Rechtspopulismus war auch in anderen europäischen Staaten – oft sogar lange vor Deutschland – erfolgreich, namentlich in Italien, Frankreich und in mehreren osteuropäischen Ländern, aber auch in der Schweiz.
Ein Problem bei der Isolierung der populistischen politischen Konkurrenz liegt darin, dass diese sich als «wahre Opposition» gegen «das System» gerieren kann und die anderen Parteien wie ein Machtkartell erscheinen. Zudem ist die Verlockung für die etablierten Parteien, doch ein Bündnis mit der isolierten Partei einzugehen, gross – besonders dann, wenn andernfalls der Machtverlust droht. Tatsächlich ist dies in Europa mehrfach geschehen, etwa in Österreich, wo die konservative ÖVP mit der rechtspopulistischen FPÖ koalierte, oder jüngst in Schweden, wo eine liberal-konservative Regierung sich von den Schwedendemokraten unterstützen lässt.
Wie die deutschen Parteien mit der Herausforderung durch die AfD fertig werden, lässt sich noch nicht sagen. Wenn der Höhenflug der AfD im Osten anhält, werden die Ergebnisse der 2024 anstehenden Landtagswahlen in Thüringen das Problem jedenfalls noch verschärfen. Dann droht entweder eine Normalisierung der AfD, wie sie mit der FPÖ in Österreich oder den Schwedendemokraten in Schweden erfolgt ist. Oder die AfD bleibt weiterhin politisch isoliert – was jedoch die anderen Parteien dazu zwingen wird, immer breitere und damit schwierigere Koalitionen zu bilden.