So sehr haben sich die Deutschen bereits an den Gedanken gewöhnt, dass Friedrich Merz ihr nächster Kanzler werden könnte, dass die Unwahrscheinlichkeit seines Aufstiegs zuletzt kaum noch ein Thema war: Nun dürfte der Christdemokrat im Alter von fast siebzig Jahren Regierungschef werden. In Israel oder den USA mag so etwas normal sein, doch dass in Deutschland ein Politiker in solch fortgeschrittenem Alter in ein hohes Amt vorstösst, ist seit langem nicht mehr vorgekommen.
Merz dürfte sich als Ausnahmefigur für eine Ausnahmesituation sehen. Er mag dabei an Konrad Adenauer denken, der im Alter von 73 Jahren erster Kanzler der Bundesrepublik wurde. Von der Notwendigkeit, vielleicht auch der historischen Bedeutung seiner Mission scheint Merz überzeugt zu sein, sonst hätte sich der siebenfache Grossvater längst zur Ruhe setzen können.
In den USA bezeichnet man Politiker wie den Christdemokraten als «Mavericks»: Einzelgänger, die vom Establishment ihrer Parteien eher als Störfaktor denn als Bereicherung wahrgenommen werden. Merz hat den Ruf des Rebellen kultiviert: Als junger Mann, so berichtet er nicht ohne Stolz, sei er der Schule verwiesen worden, unter anderem, weil er im Klassenraum lieber Karten gespielt habe, als dem Unterricht zu folgen.
Dass er als Jugendlicher lange Haare getragen und mit dem Töff über die Hügel des Sauerlands gebraust sei, wird in seiner Heimatregion zwar von manchen angezweifelt, doch in den späten Neunzigerjahren, als Merz die Geschichte erzählte, entsprach sie dem herrschenden Zeitgeist: Als cool galten damals Politiker, die auf eine wilde Jugend verweisen konnten, allen voran der grüne Aussenminister Joschka Fischer.
Merz, der konservative Rebell? Verbürgt ist, dass er sich 1994, nach seinem ersten Einzug in den Bundestag, Helmut Kohls semifeudalistische Unart verbat, niederrangigere Kollegen ungefragt zu duzen, sich selbst aber von diesen siezen zu lassen. Als «frechen Lumpen» soll der Kanzler den jungen Abgeordneten daraufhin bezeichnet haben.
Im Bonn der späten Neunziger- und im Berlin der frühen Nullerjahre stand Merz quer zum Zeitgeist: Während andere junge CDU-Leute mit grünen Kollegen in italienischen Restaurants die Möglichkeit von Koalitionen ausloteten, schärfte er sein konservatives und wirtschaftsliberales Profil. Geblieben ist ihm der Ruf des kaltherzigen Neoliberalen, den linke Aktivisten bis heute regelmässig wiederzubeleben versuchen.
Nach Kohls Abgang waren in der CDU neue Leute gefragt, und so wurde Merz rasch Chef der Bundestagfraktion. Doch schon bald endete sein Aufstieg: Im Frühjahr 2002 beschlossen die CDU-Vorsitzende Angela Merkel und Edmund Stoiber, der Chef der bayrischen Christsozialen, dass Stoiber die beiden Unionsparteien als Kanzlerkandidat in den Wahlkampf führen sollte. Das Zugeständnis liess sich Merkel auf Kosten Merz' vergelten: Stoiber akzeptierte sie als künftige Chefin der gemeinsamen Bundestagsfraktion. So musste Merz der späteren Kanzlerin weichen.
Sieben Jahre später zog er sich aus der Politik zurück. Er arbeitete nun wieder als Rechtsanwalt und übernahm Verwaltungsratsmandate bei einem Dutzend Unternehmen, darunter der Schweizer Stadler Rail Group. Mit der Zeit erwirtschaftete er ein zweistelliges Millionenvermögen – und festigte seinen Ruf: Seinen Anhängern gilt sein Erfolg als Ausweis wirtschaftlicher Kompetenz, seine Gegner fühlen sich in ihren Vorurteilen bestätigt: Merz' Tätigkeit für die amerikanische Investmentgesellschaft Blackrock wird in linken Kreisen bis heute gegen ihn verwendet.
2005 wurde Merkel Kanzlerin. Je länger sie regierte, desto mehr wurde Merz für konservative Christdemokraten zur Projektionsfläche: Mit ihrer Vorsitzenden fremdelten sie, und Merz schien das Gegenmodell zu verkörpern. Immer wieder gab es Gerüchte über ein Comeback. Heute, da Merkel wegen ihrer Migrations- und Russlandpolitik in der Kritik steht, erweist es sich für Merz als Vorteil, nicht im Bundestag dabeigewesen zu sein: Die Versäumnisse seiner Partei kann man ihm kaum anlasten.
Merz' später Aufstieg an die Parteispitze im Januar 2022 lässt sich wohl nur als Symptom einer Krise deuten: Nach 16 Jahren Kanzlerschaft Merkels war die CDU ausgelaugt, und mit Annegret Kramp-Karrenbauer und Armin Laschet mussten noch zwei Vorsitzende scheitern, bevor Merz im dritten Anlauf Parteichef wurde. Seiner Kür ging ein Mitgliederentscheid voraus: Er wurde als Mann der Basis gewählt, nicht als Kandidat der Funktionäre.
Die Wahrscheinlichkeit, dass er nun seine konservativen Unterstützer enttäuschen wird, ist relativ gross: Um Kanzler zu werden, wird er sich mit den Sozialdemokraten arrangieren müssen. So könnte er jener Frau, mit deren politischem Erbe er aufräumen wollte, bald ähnlicher werden, als ihm lieb ist. Trotzdem könnte Merz' Kanzlerschaft zum Erfolg werden, ja selbst eine gewisse Chance auf historische Grösse besteht.
Das hat mit der dramatischen Weltlage zu tun: Vordergründig betrachtet scheint der CDU-Chef als Transatlantiker ein Auslaufmodell zu sein. Er könnte aber auch prädestiniert sein, den Aufbau einer europäischen Verteidigungsunion voranzutreiben. Dass seine politischen Wurzeln im EU-Parlament liegen, dem er vor seinem ersten Einzug in den Bundestag fünf Jahre lang angehörte, ist in Deutschland nahezu vergessen, doch sind ihm die Konferenzräume Brüssels ebenso vertraut wie jene Berlins.
Viele halten Merz angesichts seines Alters für einen Mann des Übergangs. Ob er selbst das ähnlich sieht? Vielleicht schaut er auch hier auf Konrad Adenauer: Dessen Kanzlerschaft dauerte vierzehn Jahre.
Wenn in 4 Jahren die Union Richtung 35%, die AfD wieder Richtung 10% geht, hat er hervorragende Arbeit abgeliefert.
Ein überzeugter Europäer, ein Vertreter wichtiger Werte, der diesen tatsächlich treu bleibt und in ein neues Zeitalter führt.
Das wird gut.
Das ist gut.