Olaf Scholz, Emmanuel Macron und Mario Draghi sind in der Nacht auf Donnerstag mit einem Sonderzug in die ukrainische Hauptstadt Kiew gereist. Dort wollen sie, am 113. Tag des Krieges, mit Selenskyj über weitere Unterstützung für das von Russland angegriffene Land sprechen sowie über den Wunsch der Ukraine, in die EU aufgenommen zu werden.
Seit Mitte März sind zahlreiche Staats- und Regierungschefs in die Ukraine gereist. Dieser Besuch ist aber zweifellos der bedeutendste. Und so ist er bisher abgelaufen:
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) befindet sich gemeinsam mit Frankreichs Präsident Emmanuel Macron auf dem Weg in die ukrainische Hauptstadt Kiew – via Bahnverkehr. Mit im Zugabteil: Italiens Ministerpräsident Mario Draghi.
Draghi, Macron et Scholz en direction de Kiev.
— Alexis Karklins-Marchay 🇫🇷+🇺🇸 (@alexiskarklins) June 16, 2022
Photo via La @repubblica pic.twitter.com/escDKbhEGm
Eine spontane Entscheidung sei die Reise der Staatsvertreter ins Kriegsgebiet nicht gewesen, sagt Sicherheitsberater Malte Roschinski gegenüber t-online. Aus Sicherheitsgründen wurde versucht, das Treffen möglichst lange geheim zu halten. Trotzdem sickerte bereits am Wochenende durch, dass ein Besuch geplant wurde.
Die drei Spitzenpolitiker waren in einem eigens für ihre Reise zusammengestellten Sonderzug der ukrainischen Eisenbahngesellschaft Ukrsalisnyzja unterwegs. Ein direkter Flug in die Ukraine ist momentan nicht möglich (seit Kriegsbeginn ist der Luftraum gesperrt), weshalb die drei Männer nach Polen flogen und von da aus via Schienen weiterreisten.
Die Ukraine besitzt mehrere Zugmodelle, mit denen sie in den vergangenen Monaten immer wieder Staats- und Regierungschefs nach Kiew gebracht hat. Die drei Staatsvertreter hatten jeweils einen eigenen Salonwagen. Die Züge verfügen offenbar auch über Konferenzsysteme mit Fernsehern und Kameras.
Kurz nach der Ankunft des deutschen Regierungschefs Olaf Scholz am Donnerstag in Kiew ist in der ukrainischen Hauptstadt Luftalarm ausgelöst worden. Auch in zahlreichen weiteren Landesteilen gab es Luftalarm.
Auch Rumäniens Staatspräsident Klaus Iohannis ist zur selben Zeit in Kiew eingetroffen. Der Luftalarm wurde wenig später, nach gut einer halben Stunde, wieder aufgehoben.
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat der Ukraine die geschlossene Unterstützung Europas bei der Abwehr des Angriffs Russlands zugesichert.
Bei seiner Ankunft auf dem Bahnhof von Kiew sagte Macron am Donnerstag, es gehe um eine «Botschaft der europäischen Einheit, adressiert an die Ukrainerinnen und Ukrainer, sowie der Unterstützung, um zugleich über die Gegenwart und Zukunft zu sprechen, weil wir wissen, dass die nächsten Wochen schwierig werden».
Scholz traf mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron, dem italienischen Ministerpräsidenten Mario Draghi und dem rumänischen Staatschef Klaus Iohannis am späten Vormittag im ukrainischen Irpin ein.
Ähnlich wie im benachbarten Butscha wurden in dem Kiewer Vorort nach dem Rückzug der russischen Truppen Ende März knapp 300 teils hingerichtete Zivilistinnen und Zivilisten gefunden.
Der Sondergesandte des ukrainischen Präsidenten Wolodomyr Selenskyj für eine EU-Beitrittsperspektive, Oleksij Tschernyschow, führte die vier Spitzenpolitiker in Irpin an Ruinen von Häusern vorbei, die bei russischem Beschuss beschädigt wurden. Scholz, Macron, Draghi und Iohannis wollen in der Ukraine ein Signal der Solidarität mit dem von Russland angegriffenen Land senden.
In Irpin lebten vor dem Krieg knapp 60'000 Einwohnerinnen und Einwohner. Die russischen Truppen konnten die Ortschaft nicht vollständig erobern, näherten sich hier aber der Stadtgrenze der Hauptstadt bis auf wenige Kilometer.
In Irpin ist das normale Leben weitestgehend wieder aufgenommen worden. Bus- und Eisenbahnverbindungen wurden wiederbelebt, eine Behelfsbrücke ersetzt die auf dem Rückzug der Ukrainer gesprengte Flussquerung, die Menschen kehrten zurück und allerorts finden Aufräumarbeiten statt. Die durch den russischen Angriff entstandenen Zerstörungen sind jedoch weiter unübersehbar.
In einer ersten Reaktion aus Moskau spottete Russlands früherer Präsident Dmitri Medwedew über die Kiew-Reise der vier Spitzenpolitiker.
«Die europäischen Fans von Fröschen, Leberwurst und Spaghetti lieben es, Kiew zu besuchen», schrieb Medwedew auf seinem Twitter-Account. «Mit null Nutzen.»
Die Politiker müssten mit dem Zug reisen wie vor 100 Jahren. Sie stellten der Ukraine eine EU-Mitgliedschaft und «alte Haubitzen» in Aussicht, meinte Medwedew, der mittlerweile stellvertretender Vorsitzender des russischen Sicherheitsrates ist. «Das ist alles gut. Aber es wird die Ukraine nicht näher in Richtung Frieden bringen. Die Uhr tickt.»
Am Donnerstagmittag wurden Scholz, Macron, Draghi und Iohannis von Selenskyj im Präsidentenpalast empfangen.
Nach einem gemeinsamen Fototermin vor dem Gebäude setzten sich die Spitzenpolitiker an einem runden Tisch zusammen. Vor dem Treffen hatten die europäischen Gäste den Kiewer Vorort Irpin besucht und sich die Zerstörung durch die russischen Angriffe zeigen lassen.
Scholz und Macron haben sich erstmals dafür stark gemacht, dass die Ukraine ein Beitrittskandidat für die Europäische Union wird:
Macron ergänzte:
Scholz hat der Ukraine bei seinem Besuch in Kiew weitere Waffenlieferungen zugesichert, aber keine neuen, konkreten Zusagen gemacht:
Selenskyj begrüsste das klare Bekenntnis seiner Gäste: «Der EU-Kandidatenstatus könnte eine historische Entscheidung für Europa sein.» Die Ukraine hatte kurz nach dem Angriff Russlands am 24. Februar einen Antrag auf Mitgliedschaft gestellt.