Acht Menschen sind tot, darunter ein ungeborenes Kind. Ein Attentäter hat am Donnerstagabend auf eine Zusammenkunft der Religionsgemeinschaft Jehovas Zeugen geschossen, sich anschliessend selbst gerichtet. Die Polizei spricht von einer Amoktat.
«Ich stand sofort unter Strom», berichtet Nina (Name von der Redaktion geändert) über den Moment, in dem sie von den Schüssen erfuhr. «Das erste Gefühl war grosse Angst.»
Nina ist eine ehemalige Zeugin Jevohas. Sie ist in die Religionsgemeinschaft hineingeboren, ihre Eltern sind immer noch Zeugen, schon ihre Grosseltern waren es.
Nina ist 41 Jahre alt, sie ist mit ihrer Tochter ins Umland von Hamburg gezogen. Aber bis vor kurzem noch wohnte sie in der Hansestadt. Und den Königreichssaal, in dem der Amokläufer sieben Menschen und am Ende sich selbst tötete, kennt sie gut. Sie hat dieses Gotteshaus der Zeugen Jehovas mit hergerichtet, nachdem das Gebäude gekauft worden war. Sie hat als Jugendliche begeistert Steine auf dem Parkplatz verlegt, hat in der Küche Brote geschmiert, um die Helfer zu versorgen, und sie hat Bauschutt zusammengefegt.
«Ich hatte Angst, dass meine Eltern unter den Toten sind», sagt sie t-online am Tag nach dem Blutbad. «Ich hatte seit Dienstag nichts mehr von meiner Mutter gehört, was eigentlich ganz normal ist. Aber in mir breitete sich diese drückende Angst aus, gegen die kein rationaler Gedanke ankommt.»
Nina googelte. Dass der Königreichssaal in der Strasse Deelböge im Hamburger Stadtteil Gross Borstel der Ort des Amoklaufs war, bedeutete eine erste Erleichterung für sie. Denn ihre Eltern besuchen normalerweise ein anderes Gotteshaus. Als sich die Mutter dann per SMS meldete, fiel ihr ein weiterer Stein vom Herzen.
Aber die Gedanken kreisten weiter, die ganze Nacht. Es sind zwei Überlegungen, die Nina auch am Tag danach nicht loslassen.
Die erste: «Ist jemand gestorben, den ich kenne?» Das ist gut möglich, denn Nina war als junge Frau immer wieder bei Zusammenkünften der Gemeinden, die sich in der Deelböge treffen.
Der zweite quälende Gedanke: «Wie konnte es nur zu dieser schrecklichen Tat kommen? Wer hat das getan?»
Mittlerweile ist bekannt: Es war ein ehemaliges Mitglied, also jemand wie sie selbst.
Philipp F. war 35 Jahre alt und habe die Gemeinde vor anderthalb Jahren freiwillig verlassen, dies aber offensichtlich nicht im Guten, wie Polizei, Staatsanwaltschaft und Innenbehörde am Freitag in Hamburg bei einer Pressekonferenz mitteilten.
Zwei Wege, sagt Nina, gebe es aus den Zeugen Jehovas hinaus. Beide seien steinig.
Einem «schweren Sünder», also jemandem, der zum Beispiel seinen Ehepartner betrügt oder vor der Eheschliessung sexuelle Kontakte hat, könne die Gemeinschaft gegen dessen Willen entzogen werden. Darüber befinde ein Rechtskomitee. Es folge soziale Ächtung.
Aber auch der andere Weg sei hart. Nina weiss, wovon sie spricht: Sie selbst ist wie der Amokschütze Philipp F. freiwillig gegangen. Bei ihr hätten zunehmende kritische Gedanken die entscheidende Rolle gespielt, sagt sie. Dazu die immer stärker werdende Neugier, wie andere Menschen die Welt wahrnehmen.
«Formal ist es leicht, zu gehen», beschreibt sie den Ablösungsprozess. «Es reicht ein Brief. Aber innerlich wütet es lange in einem, bis man diesen Brief endlich abschicken kann. Da ist die Furcht, alles zu verlieren. Alle Freunde und die Eltern könnten sich für immer von einem abwenden.»
Bei den Zeugen Jehovas kursierten Filme, berichtet Nina. Sie spricht von «Propagandavideos». Diese Filme würden vorführen, wie sich Eltern verhalten sollten, wenn ein Kind die Zeugen verlassen wolle: nämlich kalt und abweisend.
«Dahinter steht der Gedanke, dass beim Harmagedon, der grossen, endzeitlichen Entscheidungsschlacht, nur Jehovas Zeugen gerettet werden», erklärt Nina. «Alle anderen sind für immer unrettbar verloren.»
Wenn ein geliebter Mensch die Zeugen verlasse, sei das vorherrschende Gefühl daher Trauer: «Sie empfinden, als wärst du gestorben.»
Als Weg, jemanden zurückzugewinnen, käme für die Zeugen nur Strafe in Betracht, die von den Zeugen allerdings als liebevolle Vorkehrung Gottes betrachtet werde. In den Filmen führe allein die Isolation zum Happy End: «In den Propagandavideos verlassen die Abtrünnigen dann den Weg des Bösen und schliessen sich wieder den Zeugen an. In vielen Fällen gehen Eltern darum nicht einmal mehr ans Telefon, wenn ihre Kinder anrufen.»
Andere Gemeindemitglieder reagierten oft noch harscher: «Wenn du Glück hast, lächelt dich einer an oder nickt dir kurz zu, wenn du ihm auf der Strasse begegnest.» Denn in der Bibel, die die Zeugen Jehovas weitgehend wörtlich auslegen, heisst es: «Wenn jemand zu euch kommt und nicht diese Lehre mitbringt, dann nehmt ihn nicht in euer Haus auf, sondern verweigert ihm den Gruss.»
Auch Nina ist vieles weggebrochen. Sie erzählt, wie eine gute Bekannte, die von ihrem Austritt noch nichts mitbekommen hatte, sie freudig begrüsste – und dann schlagartig verstummte und sich abwandte, als Nina ihr davon berichtete. «Viele ehemalige Zeugen haben das Gefühl, ihnen wurden ihr Leben gestohlen. Sie haben Zeit, Kraft und finanzielle Mittel für eine Lüge investiert und hegen jetzt einen Groll.»
Bei Nina ist das nicht so. Immerhin zu ihren Eltern hat sie nach wie vor ein gutes Verhältnis. Hauptsächlich ist es die Angst, diese Beziehung aufs Spiel zu setzen, die sie jetzt davor zurückschrecken lässt, ihre Geschichte unter echtem Namen zu erzählen.