International
Digital

Israelische Soldatinnen warnten vor Hamas-Terror – und wurden ignoriert

Soldatinnen überwachen Monitore von Überwachungskameras in einer Kommandozentrale im IDF-Lager Re'im im Süden Israels, 5. November 2023.
Frauen des israelischen Militärs haben die Hamas-Attacke kommen sehen. Bild: Israel Defense Forces

So warnten israelische Soldatinnen vor dem Hamas-Terror – und wurden ignoriert

Mitglieder der weiblichen Aufklärungseinheit «Tatzpitaniyot» wollen nicht länger schweigen. Hätte man auf sie gehört, wäre der Massenmord an Jüdinnen und Juden wohl verhindert worden.
09.12.2023, 20:1710.12.2023, 17:49
Anna Von Stefenelli / watson.de
Mehr «International»

Nach dem brutalen Überfall der islamistischen Hamas auf Israel am 7. Oktober herrschte Fassungslosigkeit. Weltweit. Nicht nur wegen der Brutalität der Terroristen, die wahllos Menschen bei dem Todeszug niedergemetzelt, gefoltert oder verschleppt haben.

Schockiert haben auch die Bilder der Kämpfer, die ungehindert in das Land eindrangen. Wie konnte Israel so von einem massiven Angriff überrascht werden? Ausgerechnet Israel, das Land mit dem besten Raketenabwehrsystem. Das Land, dessen Militär als eines der stärksten der Welt galt?

Offenbar ist einiges schiefgelaufen. Nun erheben Soldatinnen schwere Vorwürfe. Demnach hatten sie eindringlich und mehrfach gewarnt, auch noch in der Nacht vor der Attacke – wurden aber ignoriert. Ihren Berichten zufolge wussten sie genau, was passieren würde.

Die Spähsoldatinnen, die alles sahen

In der israelischen Armee gibt es einen Job, der quasi nur von Frauen gemacht wird. Auf Hebräisch heisst er «Tatzpitanit», was mit dem Wort «Beobachter» übersetzt werden kann. Die Spähsoldatinnen sitzen in Neun-Stunden-Schichten vor Bildschirmen, die in Echtzeit Aufnahmen von Überwachungskameras, etwa an der Grenze zum Gazastreifen, zeigen. Und sie versuchen, ungewöhnliche Aktivitäten zu prüfen.

Niemand kennt die Gebiete so gut wie sie. Eine Soldatin sagt dazu: «In meinem Sektor kenne ich jeden Stein, jedes Fahrzeug, jeden Hirten, jedes Hamas-Trainingslager, Arbeiter, Vogelbeobachter, Pfade und Aussenposten.»

An Israeli soldier walks by a house destroyed by Hamas militants in kibbutz Be'eri on Wednesday, Oct. 11, 2023. The kibbutz was overrun by Hamas militants from Neraby Gaza Strip Saturday when the ...
Israel, Kibbuz Be'eri: Ein israelischer Soldat inspiziert ein durch die Terroristen zerstörtes Haus.Bild: keystone

Jetzt erheben diese Beobachterinnen schwere Vorwürfe. Denn überraschend kam der Angriff der Hamas-Terroristen am 7. Oktober für sie nicht, wie sie gegenüber «Hareetz» berichten. Demnach habe die Hamas in der Zeit vor der Attacke alles andere als versteckt gehandelt, wie eine Soldatin der Zeitung beschreibt. Ihre Aktionen waren demnach «offenkundig». Seit Monaten.

Während dieser gesamten Zeit hätten hochrangige Offiziere der Gaza-Division und des Südkommandos der israelischen Verteidigungsstreitkräfte (IDF) sich geweigert, auf die Warnungen zu hören. Mehrere Beobachterinnen glauben, dass dies teilweise auf Arroganz, aber auch auf männlichen Chauvinismus zurückzuführen sei. Denn: Bei den «Tatzpitanit» handele es sich ausschliesslich um «junge Frauen und junge Kommandantinnen», erklärt eine von ihnen der Zeitung.

Israel: Frauen beobachteten Vorgänge an Grenze seit Wochen

Auch noch in der Nacht zum 7. Oktober habe es eine Warnung gegeben. Eine Spähsoldatin der IDF-Geheimdiensteinheit in Kissufim nahe der Grenze zum Gazastreifen, entdeckte einen unbekannten, verdächtig aussehenden Mann. Dieser habe vor einem der errichteten Tore gestanden, wie in dem Bericht steht. Später sah sie mehrere Männer in der Nähe des Zaunes, die Szene habe wie eine Besprechung gewirkt.

«Es tut mir leid, dass ich dich um diese Zeit wecken musste», entschuldigte sich die Soldatin demnach, als sie den Kommandeur des 51. Bataillons der Golani-Brigade, Meir Ohayon, informierte. «Aber ich denke immer noch, dass hier etwas Seltsames geschieht.»

Der Kommandeur zeigte sich unbeeindruckt und antwortete dem Bericht zufolge, dass es immer am besten sei, wachsam zu sein, um Überraschungen zu vermeiden. Wenige Stunden später begann der brutale Angriff der Hamas.

Soldatinnen wurden offenbar von Befehlshabern ignoriert

Offenbar gab es viele solcher Warnungen. So erzählt eine Spähsoldatin, dass etwa einen Monat vor dem Krieg Dutzende Autos und Lieferwagen in ihrem Verantwortungsgebiet ankamen. Ganz in der Nähe eines der Beobachtungstürme der Hamas. «Nach ein paar Minuten hielt neben ihnen ein Luxusauto – ein Autotyp, den nur sehr wenige Menschen in Gaza haben, also definitiv die Hamas.»

Ihr sei klar gewesen, dass diese Männer von Nukhba, der Spezialeinheit der Hamas, waren. «Sie machten sich auf den Weg zu einer Besprechung, die lange dauerte, 30 bis 40 Minuten, mit Ferngläsern, die auf die israelische Seite zeigten.» Einer der Männer habe sogar versucht, über die Überwachungskamera mit ihr zu kommunizieren. Ein Schock. Denn die Kamera befand sich auf einem hohen Mast in weiter Entfernung. Er wusste offenbar genau Bescheid.

Später habe sie von einem nördlicher gelegenen Aussichtspunkt die Meldung erhalten, dass dieselbe Gruppe zurückgekehrt sei und an verschiedenen Orten entlang des Gazastreifens Halt gemacht habe. Für die Frau und die anderen Beobachterinnen sah es wie eine Unterrichtung vor einem Einsatz gegen Israel aus – und sie handelten entsprechend. Doch ernst genommen wurde das nicht.

Sie sagt, ihre Kommandeure hätten versucht, diese Informationen in der Befehlskette weiterzugeben. Allerdings seien diese Frauen als relativ niedrigrangige Offizierinnen «genauso hilflos wie wir gegenüber den höheren Kommandeuren – und erst recht vor dem Divisions- und Regionalkommando».

IDF-Soldatinnen berichten: So bereitete sich die Hamas vor

Andere Beobachterinnen berichten, wie Unbekannte im Gazastreifen etwa einen Monat vor der Attacke Eisenstücke vom Zaun entfernt hätten oder wie sie trainierten, israelische Panzer zu zerstören. Die Übungen hätten sich immer weiter intensiviert. Transporter und Motorräder kamen dabei ebenfalls zum Einsatz.

Zudem habe man geübt, wie man Grenzzäune durchbricht. Eine Spähsoldatin sagt: «Wir sahen, wie sie sich 300 Meter vom Zaun entfernten, und ihre Trainer standen mit Stoppuhren da und massen, wie viel Zeit sie brauchten, um zum Zaun zu laufen, ihn zu erreichen und zu ihren Positionen zurückzukehren.»

Hamas militants transport an Israeli woman taken from a kibbutz into the Gaza Strip on Saturday, Oct. 7, 2023. Hamas militants stormed the border with Israel, killed over 1,200 Israelis, and took more ...
Mit Motorrädern entführten die Hamas-Terroristen zahlreiche Israelis.Bild: keystone

Beobachterin mit schweren Vorwürfen: «Weil niemand auf uns hören wollte»

Auch eine weitere Beobachterin beschreibt die Vorbereitungen der Hamas detailliert: «In den letzten Monaten begannen sie, jeden Tag, manchmal sogar zweimal am Tag, Drohnen aufzustellen, die ganz nah an die Grenze herankamen», sagt sie. Etwa eineinhalb Monate vor dem Krieg habe die Hamas dann einen bewaffneten Beobachtungsposten errichtet, wie sie auch in Israel stehen.

Mit Drohnen hätten sie versucht, ihn zu treffen. Doch ernst genommen wurden auch diese Warnungen demnach nicht: «Wir haben unsere Kommandeure angeschrien, dass sie uns ernster nehmen müssen, dass hier etwas Schlimmes passiert.» Wer heute sage, dass es unvermeidlich war oder dass man es nicht wissen konnte, der lüge.

Ähnliches berichtet eine weitere Soldatin, die als Beobachterin arbeitet. An jenem 7. Oktober war sie zu Hause, als die Angriffe anfingen:

«Als mir klar wurde, dass es eine so grosse Infiltration gab, sagte ich meiner Familie: ‹Es gibt einen Hamas-Überfall, sie werden Soldaten entführen und in die Wohnsiedlungen stürmen.› Ich habe ihnen sogar gesagt, dass sie auf keinen Fall ohne Gleitschirme kommen würden. Sie sahen mich an, als wäre ich verrückt. Ich fing an zu schreien, dass wir wüssten, dass da etwas passieren würde und niemand auf uns hören würde.»

Laut IDF sollen diese Vorwürfe nach dem Krieg aufgeklärt werden im Rahmen einer Untersuchung zum Geheimdienstversagen des 7. Oktobers. Allerdings habe die Zerstörung der Hamas im Gazastreifen aktuell oberste Priorität.

Quellen

DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet, um die Zahlung abzuschliessen.)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
Norwegens weibliche Antwort auf die Navy Seals
1 / 34
Norwegens weibliche Antwort auf die Navy Seals
Frauen in Kampfmontur, das Sturmgewehr im Anschlag: Vorhang auf für...
quelle: forsvaret.no
Auf Facebook teilenAuf X teilen
Arnold Schwarzeneggers Rede an das russische Volk: Die Highlights
Video: watson
Das könnte dich auch noch interessieren:
143 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
Die beliebtesten Kommentare
avatar
Anunnaki Project
09.12.2023 21:48registriert Oktober 2023
Sollten sich die Vorwürfe der Soldatinnen tatsächlich als wahr erweisen - und auf mich machen sie momentan einen relativ glaubwürdigen Eindruck - erwarte ich, dass bei der anstehenden Untersuchung massiv Köpfe rollen werden..!!

Wenn es tatsächlich Vorgesetzte gibt, die aus purer Arroganz & sexistischen Rollenbildern darauf verzichtet haben, ihre Bevölkerung im nötigen Ausmaß zu schützen, dann müssen die nicht nur weg vom Posten, sondern gehören m.E. nebst der gesellschaftlichen Ächtung auch mit einer Anklage betreffend Landesverrat gestraft!
19711
Melden
Zum Kommentar
avatar
eightball
09.12.2023 23:07registriert September 2016
Langsam werden die Berichte und Kommentare differenzierter. Lange wurde in den lezten Wochen - aus Pietätsgründen - darauf verzichtet die israelische Regierung zu kritisieren. Letztem Ende wird es Bibi den Kopf kosten ... müssen! Brutal gesagt, brauchte er die Hamas, um von innenpolitischen, kaum überwindbaren Defiziten ablenken zu können, nur fliegt ihm das Ganze letztem Ende nun um die Ohren. Ich bin komplett überzeugt, dass noch viel mehr solche Details in nächster Zeit auf den Tisch kommen werden. Möge dies den Staat weiterbringen, denn ich stehe zu 100% hinter dessen Existenzrecht.
16715
Melden
Zum Kommentar
avatar
Rethinking
10.12.2023 00:18registriert Oktober 2018
Man könnte auf die Vermutung kommen, dass die oberste Israelische Führung extra weg sah, damit sie danach einen Grund hatte, um in Gaza einzumarschieren und alles dem Erdboden gleich zu machen…
6619
Melden
Zum Kommentar
143
    Game over für Playstation, Xbox und Nintendo Switch?
    Seit Jahren wird den Spielkonsolen von Sony, Nintendo und Microsoft das baldige Ende vorausgesagt. Die Realität sieht anders aus.

    Bereits vor 15 Jahren wurde Spielkonsolen ein schleichender Tod prophezeit. Tablets, wie das damals brandneue iPad, würden ihnen den Rang ablaufen, glaubten Experten. Heimkonsolen hätten wegen Cloud-Gaming keine Zukunft, behaupteten Tech-Enthusiasten. Smartphones würden mobilen Konsolen den Todesstoss versetzen, schrieben Marktforscher. Insbesondere Nintendo habe als Konsolenhersteller keine Zukunft, erklärten Analysten.

    Sie irrten.

    Nintendos brandneue Switch 2, die am Fernseher und mobil als Handheld genutzt werden kann, verkauft sich schneller als jede Konsole zuvor. Über 3,5 Millionen verkaufte Switch 2 nach den ersten vier Verkaufstagen sind mit grossem Abstand der bislang erfolgreichste Konsolen-Launch.

    Zur Story