Monatelang spielte US-Justizminister Merrick Garland den Hamlet. Ermitteln, oder nicht?, lautete seine Schicksalsfrage. Oder anders ausgedrückt: Was ist schlimmer, einen Ex-Präsidenten anzuklagen, und damit ein am Rande eines Bürgerkrieges stehendes Land ins Chaos zu stürzen? Oder einen Ex-Präsidenten, der offensichtlich einen Staatsstreich versucht hat, unbehelligt lassen?
Nun hat sich Garland entschieden. Die «Washington Post» berichtet, dass der Justizminister gegen den Ex-Präsidenten ermittelt. Als Beleg dazu führt das Blatt an, dass Mitglieder des Justizdepartements zwei der wichtigsten Mitglieder des Stabes von Ex-Vizepräsident Mike Pence einvernommen haben, den ehemaligen Stabschef Marc Short und den ehemaligen Rechtsberater Greg Jacob. Beide waren bei den Ereignissen rund um den 6. Januar hautnah dabei.
«Die Strafverfolger haben dabei stundenlang detaillierte Fragen zu den Meetings gestellt, die Trump im Dezember 2020 und im Januar 2021 durchgeführt hat», schreibt die «Washington Post». Offenbar wollten sie dabei erfahren, ob und wie Trump seinen Vize Pence unter Druck gesetzt hat, und was für Anweisungen der Ex-Präsident bezüglich der Fake-Elektoren erteilt hat.
Gleichzeitig berichtet die «Washington Post» auch, dass das Justizministerium bereits im April eine Liste von Telefongesprächen, welche die Mitglieder des Weissen Hauses, insbesondere Ex-Stabschef Mark Meadows, geführt hatten, erhalten hat.
Justizminister Garland hat sich ebenfalls zu Wort gemeldet. In einem Interview mit der TV-Station NBC bekräftigte er einmal mehr: «Wir ermitteln ohne Furcht und ohne Rücksicht. Wir werden jeden zur Rechenschaft ziehen, der sich rund um die Ereignisse des 6. Januars strafbar gemacht hat; jeder, der versucht hat, die rechtmässige Übergabe der Macht zu behindern. Genau das werden wir tun. Und wir werden uns dabei um nichts anderes kümmern.»
Offenbar verfolgen die Strafbehörden des Justizministeriums bei ihren Ermittlungen zwei Ziele. Einerseits klären sie ab, ob beim Sturm auf das Kapitol tatsächlich der Tatbestand einer «aufrührerischen Verschwörung» erfüllt war. Deshalb haben sie bereits die beiden Anführer der massgeblich beteiligten Milizen, Stewart Rhodes von den Oath Keepers und Henry Tarrio von den Proud Boys, angeklagt.
Gleichzeitig rücken die sogenannten Fake-Elektoren immer mehr in den Mittelpunkt der Untersuchungen. Dabei geht es darum, dass in den fünf entscheidenden Swingstates die Republikaner gefälschte Elektoren-Listen erstellt und nach Washington geschickt hatten, in der Absicht, dass Mike Pence bei der Zertifizierung diese verwenden und so Trump zum Sieg verhelfen würde.
In dieser Sache enthüllt auch die «New York Times» neue brisante Details. Sie ist in den Besitz von E-Mails gelangt, in der Trumps Helfer darüber diskutieren, wie dieser Betrug über die Bühne gehen soll. Jack Wilenchik, ein Anwalt, der für die Organisation in Arizona zuständig war, schreibt dabei an Boris Epshteyn, einen strategischen Berater von Trump:
«Wir werden ganz einfach Fake-Elektoren-Listen an Pence schicken, damit irgendjemand im Kongress Einsprache erheben kann, wenn die Stimmen ausgezählt werden. Danach werden wir verlangen, dass diese Fake-Listen gezählt werden müssen.» Kurz darauf schickte er einen bezeichnenden Zusatz nach: Es sei wahrscheinlich besser, nicht von «Fake-Listen», sondern von «alternativen Listen» zu sprechen, ergänzt mit einem Smiley-Emoji.
Trump wusste nicht nur von den gefälschten Elektoren-Listen, er hat diesen Schwindel aktiv gefördert. Ronna McDaniel, die Vorsitzende des Republican National Committee (RNC), hat dies vor dem Ausschuss unter Eid bestätigt. Sie sagte aus, dass der Ex-Präsident sie eigens deswegen angerufen habe. Dabei habe er sie mit John Eastman verbunden und betont, wie wichtig es sei, dass das RNC bei dieser Kampagne mitmache. Eastman ist der Verfassungsjurist, der die dubiose Rechtfertigung des ganzen Manövers verfasst hat.
Die gefälschten Elektoren-Listen sind auch Gegenstand der Ermittlungen, welche Fani Willis, eine Staatsanwältin im Bundesstaat Georgia, durchführt. Dazu kommen die Untersuchungen des Ausschusses, der ebenfalls über 1000 Zeugen einvernommen und zehntausende von Dokumenten gesichtet hat. Gibt es da keine Kollusionsgefahr? Justizminister Garland wiegelt ab. Natürlich gebe es Überschneidungen, erklärte er im erwähnten Interview, doch das sei kein Problem.
Die Tatsache, dass das Justizministerium nun offenbar die Rolle von Trump beim versuchten Staatsstreich unter die Lupe nimmt, bedeutet nicht, dass der Ex-Präsident auch angeklagt, geschweige denn verurteilt wird. Es ist jedoch ein starkes Zeichen, dass der immer wieder beteuerte Grundsatz – «niemand steht über dem Gesetz, auch der Präsident nicht» – mehr ist als eine Worthülse.
Hoffe, dass er dann auch angeklagt und zu Gefängnis verurteilt wird.