Das Resultat war knapper als erwartet, aber sie hat es geschafft. Mary Elizabeth «Liz» Truss wurde von den Mitgliedern der Konservativen Partei mit einem Anteil von 57 Prozent zur Vorsitzenden gewählt. Damit wird sie neue Premierministerin und Nachfolgerin von Boris Johnson. Heute wurde sie von Queen Elizabeth mit der Regierungsbildung beauftragt.
In der Tory-Fraktion hatte sich ihr Rivale, der frühere Schatzkanzler Rishi Sunak, noch klar durchgesetzt. An der Parteibasis aber hatte er nie eine Chance. Dort gibt es viele Johnson-Fans, die Sunak als «Verräter» betrachten und ihm die Schuld am Sturz ihres Idols geben. Zudem machte der 42-Jährige den «Fehler», mit Realpolitik Wahlkampf zu machen.
So widersetzte sich Sunak der Forderung nach sofortigen Steuersenkungen. Erst müsse die Inflation bekämpft werden. Ökonomen rechnen mittlerweile damit, dass sie nächstes Jahr auf 20 Prozent ansteigen könnte. Einstige Parteigrössen stellten sich hinter Sunak, etwa der 90-jährige Nigel Lawson, ein früherer Finanzminister von Margaret Thatcher.
Genützt hat es ihm nichts, denn die bisherige Aussenministerin Liz Truss setzte im Kampf um den Einzug in die Londoner Downing Street Nr. 10 auf hemmungslosen Opportunismus. Sie sagte, was die Tory-Mitglieder hören wollten. Diese sind überwiegend männlich, weiss und wohlhabend. Die Teuerung interessiert sie weniger als tiefe Steuern.
Folglich versprach Truss ihnen genau dies, obwohl die grosse Mehrheit der Bevölkerung nichts mehr wünscht als eine Entlastung bei den explodierenden Strom- und Gaspreisen. Manche werden im Winter vor der Wahl stehen: «Heat or Eat» – Heizen oder Essen. Selbst mittelständischen Haushalten droht der Absturz in die «Fuel Poverty», die Energie-Armut.
Rishi Sunak stellte den bedrängten Haushalten nicht näher umschriebene Zuschüsse in Aussicht. Liz Truss hingegen dozierte lieber über eine noch stärkere Abnabelung von der Europäischen Union. So erklärte sie bei einem Wahlkampfauftritt, sie könne «im Moment» nicht sagen, ob Frankreichs Präsident Emmanuel Macron ein Freund oder ein Feind sei.
Der fand das nicht lustig, doch opportunistische Sprüche sind typisch für den Werdegang von Liz Truss. Ihre Eltern, eine Krankenschwester und ein Mathematikprofessor, waren laut eigener Aussage «links von Labour». Die Mutter kämpfte gegen Atomwaffen. Sie selbst trat den Liberaldemokraten bei und sprach sich für die Abschaffung der Monarchie aus.
Die 47-Jährige hatte im Gegensatz zu vielen Tories eine staatliche Schule besucht und an der Elite-Universität Oxford studiert. Nach dem Abschluss wechselte sie zu den stramm monarchistischen Konservativen, wo sie die Karriereleiter emporkletterte. 2010 wurde sie ins Unterhaus gewählt, zwei Jahre später trat sie in die Regierung von David Cameron ein.
Als treue Gefolgsfrau des Premierministers setzte sie sich bei der Abstimmung 2016 für den Verbleib des Königreichs in der EU ein, während Rishi Sunak für den Brexit votierte. Sie wolle nicht, dass ihre beiden Töchter ein Visum bräuchten, um in Europa zu arbeiten, sagte sie. Heute gebärdet sich Liz Truss als enthusiastische Brexit-Befürworterin.
Ihre unmittelbare Herausforderung aber ist die Energiekrise. Am Sonntag kündigte sie in der BBC und im «Sunday Telegraph» ein «entschiedenes Handeln» an, damit «Familien und Unternehmen durch diesen und den nächsten Winter kommen». Schon am Donnerstag wolle sie einen Plan vorstellen, berichtete die BBC am Montag mit Berufung auf ihr Umfeld.
Er soll Steuersenkungen enthalten sowie vermutlich ein «Einfrieren» der Energiepreise, das auch Branchenvertreter befürworten. Das würde Milliarden kosten. Kwasi Kwarteng, der mutmassliche neue Finanzminister, stellte in der «Financial Times» eine stärkere Verschuldung in Aussicht, ohne «ein Loch in die öffentlichen Finanzen zu sprengen».
Dieser Härtetest ist gewaltig, genau wie das Risiko für die Regierungspartei. «Wenn wir das mit der Energie hinbekommen, ist (Labour-Chef) Starmer schlagbar. Wenn nicht, sind wir erledigt», sagte ein ranghoher Konservativer der BBC. In den Umfragen liegen die Tories deutlich hinter Labour, und spätestens Ende 2024 findet die nächste Unterhauswahl statt.
Auf der Insel fragen sich nicht wenige, ob Liz Truss das Format als Regierungschefin besitzt. In Aussehen und Auftreten versucht sie, Parteiikone Margaret Thatcher zu imitieren. Der Politologe Anthony Glees bezeichnete diesen Vergleich gegenüber t-online.de als «völlig irrsinnig». Zwischen den Frauen gebe es ausser der Optik keine Gemeinsamkeiten.
Thatcher wurde «Eiserne Lady» genannt, weil sie ihre Prinzipien knallhart verteidigte. Truss hingegen gleiche mit ihrem Opportunismus dem scheidenden Premier Boris Johnson, meinte Glees, doch ihr fehle dessen Charisma. Johnson selbst gab sich im Wettstreit um seine Nachfolge vordergründig neutral, doch seine Gefolgsleute unterstützen stets Truss.
Dabei könnte eine Menge Kalkül im Spiel sein. Demnach spekuliert Johnson auf ein Scheitern seiner Nachfolgerin, das ihm ein Comeback ermöglichen würde. Dominic Cummings, ehemals Berater und heutiger Erzfeind von Johnson, bezeichnete Liz Truss als «menschliche Handgranate», die hochgehen und ein Chaos verursachen werde.
Danach werde die Partei den Ex-Premier reumütig zurückholen, damit er sie in die nächste Wahl führe. Für Premierministerin Truss steht viel auf dem Spiel. Entweder kann sie die Unkenrufe widerlegen und eine Lösung gegen die drohende «Energie-Armut» präsentieren. Oder sie wird als weitere Kurzzeit-Regierungschefin in die britische Geschichte eingehen.