25. März 2010. Bundeskanzlerin Angela Merkel hält vor dem Bundestag eine Rede zur Eurokrise. Sie spricht sich gegen direkte Finanzhilfen an das hochverschuldete Griechenland aus.
Wenige Stunden später nimmt Merkel an einem EU-Gipfel teil. Und: stimmt einem ersten Rettungspaket für Griechenland zu. Merkel rechtfertigt sich damit, dass ihre Entscheidung «alternativlos» gewesen sei.
Alternativlos. Dieses Wort lässt den Hamburger Volkswirtschaftsprofessor Bernd Lucke nicht mehr los. Seit 33 Jahren ist er CDU-Mitglied. Doch die Euro-Rettungspolitik von Merkel kann er nicht mehr mittragen.
Lucke tritt aus der CDU aus. Und drei Jahre später, am 6. Februar 2013, gründet er zusammen mit 17 weiteren Personen, darunter vorwiegend Ex-CDU-Mitglieder, seine eigene Partei: die Alternative für Deutschland.
Dank der neuen AfD soll das Land nie wieder «alternativlos» sein. Allerdings bedeutet das 2013 noch etwas anderes als heute.
Dass Bernd Lucke die AfD genau im Jahr 2013 gründet, ist kein Zufall. Im September wählt Deutschland einen neuen Bundestag. Das Wahlprogramm der AfD, das für den Einzug ins Parlament sorgen soll, ist kurz, aber einprägsam: Euro-Raum auflösen, nationale Währungen wie die D-Mark wiedereinführen, EU-Beamten die Gehälter kürzen, die Macht der EU einschränken.
Die Öffentlichkeit weiss zunächst nicht, wie sie die neue Partei einordnen soll. Lucke selbst will die AfD nicht auf dem politischen Spektrum zwischen rechts und links, zwischen konservativ und progressiv verorten. Die AfD bekomme Zulauf von allen Seiten, betont er immer wieder.
Medien sprechen dennoch von einer neuen Partei rechts der CDU, einer rechtspopulistischen Splitterpartei. Dafür gibt es gute Gründe. Die Rhetorik der AfD schockiert die deutsche Öffentlichkeit ab Tag eins. Im Wahlkampf bezeichnet Lucke CDU und Co. als «verbrauchte Altparteien». Migrantinnen und Migranten nennt er «sozialen Bodensatz, der lebenslang in unseren Sozialsystemen verharrt».
EU-Kritik und Ressentiments wie diese haben bisher einzig bei der völkisch-nationalistischen NPD (ab 2023: «Die Heimat») zum Parteiprogramm gehört. Entsprechend befürchtet diese, dass die AfD ihr bei der Bundestagswahl Wählerstimmen abtrünnig machen könnte. Vermummte NPD-Mitglieder stürmen im Wahlkampf darum immer wieder AfD-Veranstaltungen und zerstören Wahlplakate.
Der AfD schaden diese Angriffe allerdings nicht. Auch nicht die Tatsache, dass schon kurz nach Parteigründung Mitglieder in den AfD-Landesverbänden in Bayern, Hessen, Baden-Württemberg und Sachsen darüber klagen, dass ihre Verbandsspitze die Partei diktatorisch führe und es Mobbing, Drohanrufe und verfälschte parteiinterne Wahlen gebe.
Bei der Bundestagswahl im September 2013 erreicht die AfD 4,7 Prozent der Stimmen. Damit verpasst sie den Einzug in den Bundestag nur knapp – da dafür fünf Prozent der Stimmen nötig wären.
Für eine so junge Partei wie die AfD, ist dies dennoch ein grosser Erfolg. Wie hat sie das noch in ihrem Gründungsjahr geschafft?
Die Politikwissenschaftler Ralf Tils und Joachim Raschke erklären es nach der Bundestagswahl 2013 so:
Vom Image des Rechtspopulisten will sich Lucke befreien. Er bittet die Landesverbände darum, einen Aufnahmestopp von ehemaligen Mitgliedern rechter Splitterparteien zu vollziehen. Die Landesverbände im Osten wollen sich daran aber nicht halten. Allen voran die sächsische AfD-Sprecherin an Luckes Seite: Frauke Petry.
Lucke akzeptiert das vorerst. Für die Europawahl im Mai 2014 versucht er jedoch, die Partei klarer zu positionieren. Der Titel des neuen Wahlprogramms der AfD lautet: «Mut zu Deutschland. Für ein Europa der Vielfalt.» In diesem spricht sich die AfD explizit für eine «menschenwürdige Zuwanderungs- und Asylpolitik» und für ein «offenes und ausländerfreundliches Deutschland» aus.
Von seiner Rhetorik verabschiedet sich Lucke allerdings nicht. Deutschland bezeichnet er als eine «Entartung der Demokratie». An Wahlveranstaltungen fordert er, dass die «Südländer» die Eurozone verlassen müssen. Er schürt Ängste vor «Kriminalität durch Armutsmigranten» und spricht sich für Abschiebungen von ausländischen Kleinkriminellen aus.
Wer der Partei nach solchen Aussagen Hetze vorwirft, dem entgegnet Lucke, es herrsche Meinungsfreiheit und er lasse sich von der «Sprachpolizei» nicht den Mund verbieten. Wer ihm vorwirft, sich mit Rechtsextremen anzubiedern, den bezichtigt Lucke der «Propaganda». Und als ein AfD-Landesverband im Wahlkampf das Demokratieverständnis der EU mit jenem von Diktator Kim Jong Un in Nordkorea gleichsetzt, redet Lucke sich damit heraus, dass dies «satirisch» gemeint gewesen sei.
Die Strategie der AfD als Protestpartei geht bei der Europawahl im Mai 2014 erneut auf. Sie holt 7,1 Prozent der Wählerstimmen. Damit können sieben AfD-Abgeordnete – darunter Bernd Lucke – ins Europaparlament einziehen.
Dort ist ihr Handlungsspielraum zwar sehr begrenzt. Doch mit dem Einzug eröffnen sich der AfD neue Ressourcen: Mitarbeiter, Gelder, Zugriff auf staatliches Wissen. Letzteres baut die AfD noch im selben Jahr aus, als sie in die Landtage von Sachsen, Thüringen und Brandenburg gewählt wird.
2015 lässt die Erfolgssträhne nach. Bei den Landtagswahlen in Bremen und Hamburg schafft die AfD die 5-Prozent-Hürde nicht. Kritik an der Eurozone mobilisiert die Menschen nicht mehr so stark wie noch vor zwei Jahren. Jetzt ist ein anderes Thema aktuell: die Flüchtlingskrise.
Die Partei muss sich deshalb endlich klar ausrichten. Aber in welche Richtung? Wegen dieser Frage beginnt es innerhalb der AfD zu brodeln. Federführend in diesem Disput ist ein Geschichtslehrer, der in der Vergangenheit an Demos der rechtsextremen NPD mitmarschierte und seit Kurzem für die AfD im Landtag in Thüringen sitzt: Björn Höcke.
Höcke schart innerhalb der Partei Gleichgesinnte um sich. Sie nennen sich «Der Flügel» und prägen fortan den Kurs der Partei. Und zwar in eine völkisch-nationalistische Richtung.
Innerhalb der Partei entstehen zwei Lager: das wirtschaftsliberal-konservative Lager von Bernd Lucke und das Lager von Frauke Petry, welche die Unterstützung des «Flügels» hinter sich hat.
Petrys Lager gewinnt die Oberhand. Und im Juli 2015 verlässt Lucke die AfD. Er gibt zu Protokoll, dass er keine Partei unterstützen könne, deren politische Vorstellungen er «aus tiefer Überzeugung» ablehne. Dazu zählten etwa «islamfeindliche und ausländerfeindliche Ansichten».
Ab sofort ist Petry die Chefin der AfD. Sie duldet vorerst, dass Höcke die «Junge Alternative» aufbaut, die sich selbst als «Höcke-Jugend» bezeichnet. Sie akzeptiert auch, dass er Grossdemonstrationen gegen die «Asylkrise» veranstaltet und flammende Reden hält, in denen er sich immer radikaler und aggressiver äussert.
Höcke testet aus, wie weit er gehen kann.
Im November 2015 nutzt er noch verklausulierte, pseudowissenschaftliche Sprache, um zwischen einem «Menschentypus» in Afrika und jenem in Europa zu unterscheiden. So kann er sich herausreden und auf ein Missverständnis plädieren, als ihm Medien die Verbreitung von Rassentheorien wie zu Zeiten der Nazis vorwerfen.
2017 ist Höcke schon mutiger. An einer Veranstaltung der Jungen Alternative behauptet er, die Existenz des «deutschen Volkes» sei «elementar bedroht». Durch den Geburtenrückgang und die «Masseneinwanderung». Den Umgang Deutschlands mit seiner Vergangenheit bezeichnet er als «dämliche Bewältigungspolitik». Und zum Holocaust-Mahnmal in Berlin sorgt er mit folgendem Satz für Schlagzeilen:
Wegen dieser Aussage will ihn der verbliebene wirtschaftsliberale Teil rund um Frauke Petry im September 2017 aus der AfD ausschliessen. Auch die künftige Kanzlerkandidatin Alice Weidel stimmt dafür. Die Mehrheit der AfD stellt sich jedoch auf die Seite Höckes. Darunter Gründungsmitglied Alexander Gauland, der bereits angefangen hat, Höckes Rhetorik zu übernehmen.
Nach dieser Niederlage verlässt Petry die AfD. Genauso wie viele andere, die ihre Forderung unterstützt hatten. Nur eine von ihnen nicht: Alice Weidel.
Sie hat es erst gerade geschafft, neben Alexander Gauland als Spitzenkandidatin für die Bundestagswahl 2017 aufgestellt zu werden. Diesen Posten will sie nicht aufgeben. Weidel bleibt, passt ihre Rhetorik an und nutzt die Gunst der Stunde zu ihrem Vorteil.
Bei der Bundestagswahl 2017 holt die AfD deutschlandweit 12,6 Prozent der Stimmen und zieht damit als grösste Oppositionspartei ins nationale Parlament ein. Alle anderen Parteien weigern sich, mit ihr zusammenzuarbeiten.
Weidel präsidiert fortan gemeinsam mit Gauland die AfD-Bundestagsfraktion. In dieser Position inszeniert sich Weidel gerne als die «Gemässigte» der AfD.
Neben Björn Höcke wirkt Weidel, die im Fach Volkswirtschaft mit Bestnote promoviert hat, seriös und professionell. Die Grenzen des Sagbaren verschiebt sie nicht. Das überlässt sie Höcke. Sie zieht mit ihrer rechtsextremen Rhetorik erst nach, wenn Höcke die Grenzen längst neu gezogen hat. Als sie 2018 im Bundestag über «Kopftuchmädchen und alimentierte Messermänner» herzieht, schockiert dies Deutschland schon nicht mehr so stark. Denn wenige Monate zuvor hat Höcke in einer Rede bereits versprochen, den Islam über die deutschen Grenzen hinweg bis hin zum Bosporus zu bekämpfen, sobald die AfD an die Macht komme.
Weidel fühlt sich wohl in der Rolle jener, welche die AfD davor bewahrt, komplett zu den Rechtsextremen abzudriften. Und sie akzeptiert, dass Höcke innerparteilich mit seinem Flügel den Ton angibt.
Gleichzeitig profitiert auch Höcke von Weidel. Denn wie soll man der AfD Rassismus und Homophobie vorwerfen, wenn sie eine Bundestagsfraktionschefin wie Weidel hat? Eine offen lesbische Frau, die mit einer Frau mit Wurzeln in Sri Lanka liiert ist und zwei adoptierte Kinder grosszieht?
In dieser seltsamen Symbiose erreicht die AfD im Oktober 2018, nach den Landtagswahlen in Hessen und Bayern, ihren bisherigen Höhepunkt: Ab sofort ist sie in allen Landesparlamenten, im Bundestag und im Europaparlament vertreten. Das hat seit 1945 keine andere Partei rechts der CDU geschafft. 2019 wird die AfD in Thüringen und Sachsen bei den Landtagswahlen gar erstmals die zweitstärkste Partei.
Ab 2020 bekommt die Erfolgskurve der AfD erneut einen Knick. Bei den Landtagswahlen in Westdeutschland. Das hat zwei Gründe.
Der erste Grund: 2020 gibt der Bundesverfassungsschutz bekannt, dass er den Flügel um Björn Höcke offiziell als rechtsextreme Gruppierung einschätzt und die gesamte AfD deshalb unter Beobachtung stellt. Vor allem westdeutsche AfD-Landesverbände fordern daraufhin die Auflösung des Flügels.
Weidel unterstützt diese Forderung und betont, dass sich die AfD von extremistischen Strömungen distanzieren müsse. Damit sichert sie ihr eigenes Image als «Gemässigte». Dennoch verspielt sie es sich nicht mit dem mächtigen Flügel um Höcke. Dieser muss zwar seine Strukturen auflösen, sprich Social-Media-Kanäle und öffentliche Veranstaltungen einstellen, inoffiziell kann das lose, informelle Netzwerk aber weiter existieren. So bleiben Höckes Macht innerhalb der Partei und seine Wählerschaft der AfD erhalten.
Der zweite Grund: Angesichts der Corona-Pandemie zieht das Kernthema der AfD, die Zuwanderung, nicht mehr so gut. Gleichzeitig herrscht innerhalb der Partei Uneinigkeit darüber, welche Haltung man in Bezug auf das Virus einnehmen soll.
Im März 2020 fordert Alice Weidel die deutsche Regierung dazu auf, das Covid-Virus ernster zu nehmen und die Bürgerinnen und Bürger davor zu schützen. Wenige Wochen später, als Bundeskanzlerin Angela Merkel entsprechend gehandelt hat, beginnt der Flügel unter Höcke damit, sich mit Verschwörungstheoretikern und Reichsbürgern einzulassen. Am Ende steht im Wahlkampfprogramm der Partei für die Bundestagswahl 2021 die Forderung nach einem sofortigen Ende der Lockdown-Massnahmen.
Weidel zieht den Kürzeren. Verlieren tut jedoch die gesamte Partei, die sich in der Pandemie mit ihren Forderungen immer wieder selbst widerspricht. In einer Zeit der Krise kehren viele Bürgerinnen und Bürger deshalb zu den etablierten Parteien zurück.
Bei der Bundestagswahl im Herbst 2021 verliert die AfD deutschlandweit 2,2 Prozent der Wählerstimmen. Ganz besonders in Westdeutschland lässt die Unterstützung der AfD nach.
In Thüringen und Sachsen jedoch kann die AfD ihre Stammwählerschaft halten. Dieses Bild zeigt, wie stark verankert Höcke und sein Flügel im Osten sind.
Nach zwei Jahren wie diesen, in denen man interne Machtkämpfe und Wahlen verliert, wäre jede andere Parteispitze gegangen. Doch Alice Weidel bleibt. Und wechselt abermals ihre Ausrichtung: Jetzt will sie nicht mehr gegen Höcke kämpfen, sondern mit ihm.
2022 treten Höcke und Weidel erstmals gemeinsam bei einer Wahlkampfveranstaltung in Erfurt auf. Halten sich lächelnd in den Armen. Es ist ein spezielles Bild: Die AfD-Parteispitze reist von der Landeshauptstadt in die Hauptstadt eines Bundeslandes zu einem einfachen Landkreischef.
Weidel war in der Vergangenheit nie gut auf Höcke zu sprechen, wollte seine radikalen Aussagen gegenüber Medien nie kommentieren. 2023, als der Verfassungsschutz Anklage gegen Höcke wegen der Verwendung von NS-Vokabular erhebt, verteidigt Weidel ihn jedoch plötzlich mit den Worten:
2024 wird die neue Allianz der beiden noch deutlicher: Nachdem es der AfD in Thüringen bei der Landtagswahl gelingt, stärkste Kraft zu werden, lobt Weidel Höcke öffentlich. Nachdem Höckes inoffizieller Flügel geschlossen Weidel als Kanzlerkandidatin für die vorgezogene Bundestagswahl am 23. Februar 2025 wählt, hat auch Höcke liebe Worte für sie übrig. Und hat es Weidel früher noch gemieden, sich des Vokabulars von Höcke zu bedienen, fordert sie im Wahlkampf nun offen «Remigration» und spricht von «Windrädern der Schande».
Die Medien ordnen diese Entwicklungen als ein Kniefall Weidels vor Höcke ein.
Die neue Allianz zwischen Höcke und Weidel macht die AfD so mächtig wie nie zuvor. Das zeigt sich daran, dass die Partei seither bei allen Landtagswahlen in ganz Deutschland an Stimmen gewonnen hat. Bei der Europawahl im Mai 2024 ist es der AfD gar gelungen, die zweitmeisten Stimmen zu holen, direkt hinter der CDU.
Diese Entwicklungen sind ein schlechtes Omen für die bevorstehende Bundestagswahl. Zwar ist noch keine Partei bereit, mit der AfD zu koalieren und eine Regierung zu bilden. Noch steht die «Brandmauer». Doch sie bröckelt.
CDU-Kanzlerkandidat Friedrich Merz hat sich in den vergangenen Wochen der AfD angenähert. Die Parteien sind nach dem Zerfall der Ampel-Koalition zerstritten. Mit dieser Ausgangslage eine handlungsfähige Regierung zu bilden, die nicht vorzeitig zerbricht, wird eine Herausforderung. Doch sie muss gelingen. Wenn nicht, wird der Siegeszug der AfD 2029 kaum noch zu verhindern sein.
Alice Weidel weiss das. Sie befeuert im Wahlkampf bereits die Bundestagswahlen 2029 als das eigentliche Ziel der AfD. Und lässt an die CDU ausrichten:
AfD böse, alle anderen lässig und cool, weiter so. Wir schaffen das, wie leben schliesslich im besten Deutschland aller Zeiten. Und wir freuen uns drauf.
Beim nächsten Anschlag dann wieder etwas zusammenstehen, eine Demo gegen Rechts, das Attentat aufs schärfste Verurteilen und die AfD weiter verteufeln.
DAS ist zusammengefasst die Bananenrepublik Deutschland. Auf keinen Fall auch nur eine Sekunde daran zweifeln, ob das was man da tut, sinnvoll ist. Die haben sich selbst in ein mentales Korsett gezwängt und kommen nicht mehr davon los. Yay 👍