Deutschland schaut sorgenvoll nach Österreich. Da, wo es die rechtsextreme FPÖ im September erstmals geschafft hat, die Nationalratswahl zu gewinnen. Wo die anderen Parteien scheiterten, eine Koalition zu bilden, um die FPÖ aus der Regierung auszuschliessen. Wo die FPÖ deshalb erstmals in ihrer Geschichte den Auftrag zur Regierungsbildung erhalten hat.
Schaut ganz Deutschland besorgt nach Österreich? Nein. Die AfD beobachtet und lernt. Ehrfürchtig. Denn die FPÖ ist ihr Vorbild. Und sie ist ihr drei Schritte voraus. Eine Übersicht, woher dieser «Vorsprung» kommt und in welchen Bereichen die AfD rasant aufholt.
Ein wesentlicher Grund, weshalb die FPÖ einen «Vorsprung» auf die AfD geniesst, findet man in der Geschichte. Nicht nur der Geschichte der beiden Parteien, sondern auch jener der beiden Länder. Dafür muss man wohl oder übel zurück in die Zeit des Dritten Reichs blicken.
12. März 1938. Deutsche Truppen fallen in Österreich ein. Auf Widerstand der Armee stossen sie nicht. Auch nicht aus der Bevölkerung. Als Adolf Hitler am 15. März auf dem Balkon der Wiener Hofburg den «Anschluss» Österreichs an Deutschland verkündet, jubeln ihm 100'000 Menschen zu und schwingen Hakenkreuz-Flaggen. Manche Historikerinnen und Historiker gehen gar von 250'000 Menschen aus.
1945 will sich in Österreich jedoch plötzlich niemand mehr an diese Vorgänge erinnern. Auch nicht daran, dass Österreicher in den letzten sieben Jahren unter der Flagge der Nazis 120'000 Menschen aus dem eigenen Land vertrieben haben. Dass sie 65'000 österreichische Jüdinnen und Juden, 20'000 Menschen mit Behinderungen oder Krankheiten, 10'000 Gestapo-Häftlinge, 8000 Roma, 2700 Widerstandskämpfer ermordet haben. Dass zahlreiche hohe Nazi-Offiziere Österreicher gewesen sind, die sich massgeblich an Hitlers «Endlösung» beteiligt haben.
Die erste österreichische Regierung – bestehend aus Mitgliedern der neu gegründeten Parteien SPÖ (Sozialdemokratische Partei), ÖVP (Christlichsoziale Volkspartei) und KPÖ (Kommunistische Partei) – stellt sich auf den Standpunkt: Österreich ist das erste «Opfer» der Nazis gewesen. 1938 sei man gewaltsam besetzt worden, in den darauffolgenden Jahren gezwungen gewesen, in den Krieg zu ziehen, die eigene Bevölkerung zu verfolgen, in Konzentrationslagern Gräueltaten zu verrichten. Verantwortlich, ja schuldig sei daher einzig und allein Deutschland.
«Opferthese» wird dieses geschichtsrevisionistische Narrativ heute genannt. Es ist mehr als nur die Beruhigung des eigenen Gewissens. Es ist Strategie. Eine erfolgreiche noch dazu. Österreich gelingt es dank dieser, sich Reparationszahlungen an die Opfer zu entziehen. Die Alliierten fordern die österreichische Regierung dennoch zur «Entnazifizierung» auf. Diese leistet Folge. Allerdings nur halbherzig.
Der Grund dafür ist ein einfacher: 1942 waren rund acht Prozent der österreichischen Bevölkerung Mitglied der NSDAP. Zählt man deren nahe Familienmitglieder hinzu, wäre 1945 ein Viertel der Bevölkerung von Entnazifizierungs-Massnahmen betroffen. Diese grosse Zahl an potenziellen Wählerinnen und Wählern wollen die Regierungsparteien nicht vergraulen. Darum erlassen sie nach und nach Amnestiegesetze, die immer mehr ehemalige NSDAP-Mitglieder von jeglicher Strafverfolgung befreien.
Übrig bleiben 1948 schliesslich nur noch Massnahmen gegen 42'000 sogenannte «Belastete». Jene, die einst den «harten Kern» der NSDAP in Österreich dargestellt haben, etwa hohe Parteimitglieder und SS-Offiziere. Diese fühlen sich vom Staat ungerecht behandelt. Sie sehen nicht ein, warum sie irgendeine Schuld an den NS-Verbrechen treffen soll. Sie glauben, lediglich ihre «Pflicht» getan zu haben.
In ihrer Unzufriedenheit tun sich die «Ehemaligen» zusammen. Nicht in einer Partei, das ist für Belastete verboten. Stattdessen im Verband der Unabhängigen (VdU). Der Historiker Wolfgang Neugebauer beschreibt den VdU als «den Hitlerkrieg verherrlichende Veteranenorganisation», deren Leugnung der NS-Verbrechen von den Behörden und der Politik toleriert worden sei.
1955 geht diese Toleranz noch weiter. Die Regierung beschliesst ein weiteres Amnestiegesetz, das nun auch die «Belasteten» umfasst. So kann aus dem VdU eine neue Partei hervorgehen: die Freiheitliche Partei Österreichs. Die FPÖ ist geboren.
Fortan ist die FPÖ eine Partei wie jede andere in Österreich. Ihren politischen Kurs prägt Friedrich Peter. Dass er einst als Obersturmführer einer SS-Einheit diente, die nachweislich Massenmorde begangen hat, kümmert kaum jemanden.
Einerseits, weil das Parteiprogramm der FPÖ – der Wunsch, wieder Teil einer grossdeutschen Nation zu werden – nicht mehrheitsfähig ist. Dies wird sich auch erst in den 1990er-Jahren ändern, wenn die FPÖ unter dem neuen FPÖ-Chef Jörg Haider einen nationalistischen, rechtspopulistischen Kurs einschlägt. Andererseits, weil sich Österreich noch bis Ende der 1980er-Jahre nicht mit seiner NS-Vergangenheit auseinandersetzen und die Opferthese allgemeiner Konsens bleiben wird.
Anders als Österreich können sich West- und Ostdeutschland ihrer Schuld an den Verbrechen der Nazis nach dem Krieg nicht entziehen. Die Alliierten beobachten die Entnazifizierungsprozesse mit Argusaugen. Aufgrund des Kalten Kriegs finden diese in Westdeutschland zwar konsequenter statt als in Ostdeutschland. Eine Partei wie die FPÖ kann dennoch in beiden Teilen Deutschlands so kurz nach Ende des Krieges nicht aufkommen.
Die AfD entsteht erst 2013. Und dies ursprünglich auch nicht als rechtspopulistische Partei. Gründer der «Alternative für Deutschland» ist der ehemalige CDU-Politiker Bernd Lucke. Er ruft die Partei zu einer Zeit ins Leben, in der die Eurokrise herrscht. Die Bevölkerung in der EU leidet unter der hohen Inflation. Viele Mitgliedsstaaten sind stark verschuldet. Die EU beschliesst Finanzhilfen für Griechenland. Die neu gegründete AfD ist gegen diesen Entscheid. Ihr Parteiprogramm ist kurz, aber prägnant: die D-Mark wiedereinführen, die Macht der EU einschränken, die Gehälter der EU-Abgeordneten kürzen.
Damit spricht die AfD schnell all jene an, die mit den regierenden Parteien, insbesondere mit CDU-Bundeskanzlerin Angela Merkel, unzufrieden sind. Noch im Gründungsjahr verpasst die AfD den Einzug in den Bundestag mit 4 Prozent Wähleranteil nur knapp. Gleichzeitig entstehen in der jungen Partei neue Strömungen. Rechtsextreme Strömungen.
Als 2015 die Flüchtlingskrise in Europa einsetzt, gewinnen die rechtsextremen Strömungen innerhalb der AfD die Oberhand. Im Osten, in Thüringen, tritt der neue AfD-Landeschef Björn Höcke auf die Polit-Bühne und führt die AfD in eine rechtsnationale und populistische Richtung. Vertreter des wirtschaftsliberalen Flügels der Partei treten nach und nach aus.
Die AfD-Politikerinnen und Politiker schockieren die deutsche Öffentlichkeit fortan regelmässig mit radikalen, fremdenfeindlichen, den Nationalsozialismus verherrlichenden Parolen. So etwa 2017 Björn Höcke, als er an einer AfD-Veranstaltung in Dresden mit Blick auf das Berliner Holocaust-Mahnmal sagte:
Trotzdem gewinnt die AfD immer mehr Wählerinnen und Wähler. Daher kommt in der deutschen Gesellschaft die Angst vor einer «Wiederholung der Geschichte» auf. Und gleichzeitig die Forderung nach einer «Brandmauer gegen rechts». Die Idee: Alle Parteien in Deutschland müssen mit allen Mitteln verhindern, dass die AfD in ein Regierungsamt gelangt. Weder in den Bundesländern noch national.
Diese «Brandmauer» steht in Deutschland noch immer. Selbst nachdem die AfD die Landtagswahl 2024 in Sachsen gewonnen hat und in der Landtagswahl in Brandenburg als zweitstärkste Kraft hervorgegangen ist. An Regierungsmacht kommt die AfD nicht. Von den anderen wählerstarken Parteien ist niemand gewillt, mit ihr zu koalieren. Ganz anders sieht es in Österreich aus.
Eine «Brandmauer» gegen die FPÖ hat es nie gegeben. Für Koalitionen mit der FPÖ als Juniorpartei waren die Parteien Österreichs in der Vergangenheit immer wieder offen, wenn es ihnen selbst nützte. Auf nationaler Ebene insgesamt fünf Mal: zwei Mal gab es bereits eine SPÖ-FPÖ-Koalition, drei Mal eine ÖVP-FPÖ-Koalition.
Zwar haben die wählerstarken Parteien in der Vergangenheit immer wieder davon gesprochen, sich klar gegen die FPÖ zu positionieren, eine gemeinsame Regierung niemals bilden zu wollen. So etwa die SPÖ 1986, deren Koalition mit der FPÖ zerbrach, weil sich die Partei zunehmend nationalistisch und rechtspopulistisch ausrichtete. Konsequent durchgesetzt haben die Parteien eine «Brandmauer» gegen die FPÖ in Österreich allerdings nie. Selbst nach der Ibiza-Affäre 2019, durch die die Koalition ÖVP-FPÖ auf nationaler Ebene zerbrach, blieb die Koalition SPÖ-FPÖ in der Kärntner Landeshauptstadt Klagenfurt bis 2021 bestehen.
Diese Inkonsequenz führt Österreich heute fort. Zwar hat die ÖVP vor der letzten Nationalratswahl im September damit Wahlkampf betrieben, nie mehr mit der FPÖ koalieren zu wollen. Nun, nachdem die Verhandlungen mit den anderen Parteien geplatzt sind, befindet sich die ÖVP jedoch wieder in Koalitionsgesprächen mit der FPÖ. Und zwar erstmals als Juniorpartner. Denn Wahlsiegerin ist die FPÖ.
Doch selbst Juniorpartei der FPÖ zu werden, wäre kein Tabubruch mehr in Österreich. Diese Linie hat die ÖVP 2024 im Land Steiermark bereits überschritten. Dort bildet sie nun eine FPÖ-ÖVP-Landesregierung. Im Gegensatz zur AfD in Deutschland, schaffen es die Parteien in Österreich nicht, Abstand zur FPÖ zu halten.
Seitdem die rechtsextremen Kräfte in der AfD die Überhand gewonnen haben, verschiebt die Partei in Deutschland zunehmend die Grenzen des Sagbaren. So auch kürzlich die AfD-Chefin und frisch bestimmte «Kanzlerkandidatin» Alice Weidel am Parteitag in Riesa. Für die Bundestagswahlen im Februar stellte sie ihren «Zukunftsplan für Deutschland» vor. Dieser beinhaltet «Rückführungen im grossen Stil». Weidel rief ins Mikrofon:
Ein Tabubruch. Remigration ist ein Kampfbegriff rechtsextremer Gruppierungen. Er bedeutet nichts anderes als die Deportation von Millionen von Menschen, basierend auf rassistischen, antisemitischen und antiislamischen Weltanschauungen.
Ein Tabubruch ist die Verwendung des Begriffs allerdings nur in Deutschland. Auch in diesem Punkt hat die FPÖ einen Vorsprung. «Remigration» gehört bei ihr schon lange offiziell zum Parteiprogramm. Schliesslich verschiebt die FPÖ die Grenzen des Sagbaren schon viel länger als die AfD.
Die österreichische Öffentlichkeit ist abgestumpft. Wenn FPÖ-Politiker öffentlich darüber fantasieren, die Jüdinnen und Juden im Land zu «registrieren», bedeutet das nicht das Ende ihrer Karriere. Auch nicht, wenn ihre Politiker Beerdigungen beiwohnen, an denen SS-Treuelieder gesungen werden. Selbst wenn Videos auftauchen, in denen ihre Spitzenpolitiker mit vermeintlichen russischen Oligarchentöchtern korrupte Deals aushecken – Stichwort Ibiza-Affäre – schadet das der Partei nicht. Zumindest nicht langfristig.
Fast 30 Prozent der Österreicherinnen und Österreicher wählen die FPÖ. In vielen Fällen nicht «trotz» ihrer menschenverachtenden, rechtsextremen und öffentlich zur Schau gestellten Ansichten, sondern «wegen» diesen.
Wenn über den FPÖ-Chef Herbert Kickl bekannt wird, dass er 2018 als Innenminister das österreichische Bundesministerium für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung stürmen liess, um einem FPÖ-Freund zu helfen, reden seine Anhänger den «Vorfall» klein. Wenn Kickl sich wenige Jahre später im Wahlkampf als «Volkskanzler» bezeichnet, überhören sie das Vokabular der Nationalsozialisten. Wenn er die «Dritte Republik» einläuten will, jubeln sie ihm zu. Wenn Kickl sich weigert, sich von der als rechtsextrem eingestuften Identitären Bewegung zu distanzieren, beharren seine Fans darauf, dass man ihn nur falsch verstanden habe.
Die AfD beobachtet die Erfolgsstrategie der FPÖ aus der Ferne und gerne auch aus der Nähe bei gemeinsamen Treffen. Notiert sich, wie die FPÖ die anderen Parteien dazu bringt, selbst in populistische Parolen zu verfallen, um gegen die FPÖ-Rhetorik anzukommen. Wie die politische Mitte, in der Angst vor Machtverlust, sich immer mehr gen rechts verschiebt, bis der Abstand einer etablierten rechten Partei zur FPÖ gar nicht mehr so gross, eine Koalition gar nicht mehr so abwegig ist.
Die AfD notiert sich auch, wie die FPÖ sich kritischen Fragen von Journalistinnen und Journalisten ganz einfach entziehen kann. Wie die FPÖ selbst dann alle Vorwürfe von sich abstreifen kann, wenn der Verfassungsschutz sie beobachtet, sie als Sicherheitsrisiko für die Demokratie einstuft und Gerichte ihre Mitglieder verurteilen. Weil sie sich selbst stets in einer Opferrolle suhlt.
Zeigt die politische Situation in Österreich also, was auf Deutschland zukommt? Ja. Die FPÖ ist der AfD zwar nach wie vor einige Schritte voraus. Womöglich aber nicht mehr lange. Die AfD holt auf. Wahrscheinlich noch nicht bei den Wahlen diesen Februar. Gut möglich aber, dass es bei den darauffolgenden so weit ist.
Denn die Ausgangslage war in Deutschland nie günstiger: Die anderen wählerstarken Parteien sind zerstritten, die Menschen unzufrieden, der Hass auf Geflüchtete, Minderheiten und «Intellektuelle» nimmt zu, die Wirtschaft stagniert, die Inflation ist hoch. So wie in Österreich.
Bildung, Klima, Renten: hier wird gespart.
Tabak, Onlinehandel, Lotteriegewinne: hier werden Steuern erhöht.
Die Reichen? Werden weiterhin hofiert. Weder Vermögens- noch Erbschaftsteuern werden eingeführt.
Die FPÖ-Wähler? Werden hoffentlich bald einmal merken, mit wem sie sich da ins Bett gelegt haben.
Es ist keine schöne Zeit, in diesem schönen Land zu leben.
Interessant: Jetzt haben Griechenland, aber auch Spanien, Italien und Polen mehr Wachstum als Deutschland.
Vielleicht sollte die AfD erst einmal daraus lernen. Ein grosser Fehler Deutschlands: gegen Kredite zu sein, um die deutsche Wirtschaftsstruktur auszubauen.
Der grosse Bö hat nach dem II. WK im damals noch nicht auch nach rechts abgedrifteten Nebelspalter gedichtet:
Herrenrasse grosser Lätsch
Tausend Jahre nachher Tätsch
Kaum verschwartet frisch gestartet
Wer hätt‘ anders es erwartet!
Und wenn ‘s dann wieder vorbei ist, weiss dann auch wieder niemand von etwas!