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Das Ende der grossen Zurückhaltung: EU mahnt Israel

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Die Präsidentin des Europäischen Parlaments Roberta Metsola an einer Pressekonferenz anlässlich des zweitägigen EU-Gipfels in Brüssel, 26. Oktober 2023. Bild: keystone

Das Ende der grossen Zurückhaltung: EU mahnt Israel

26.10.2023, 22:29
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Die Europäische Union verschärft angesichts der katastrophalen humanitären Situation im Gazastreifen ihren Ton gegenüber Israel. Die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten forderten am Donnerstagabend bei einem Gipfeltreffen in Brüssel Feuerpausen und geschützte Korridore für sichere Hilfslieferungen in den Gazastreifen. Die sich verschlechternde humanitäre Lage in Gaza gebe Anlass zu grösster Besorgnis, heisst es in einer Gipfelerklärung zum Nahostkonflikt. Man unterstütze Bemühungen für eine internationale Friedenskonferenz.

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Vertreterinnen und Vertreter der Mitgliedsstaaten der EU begrüssen sich am Gipfeltreffen in Brüssel, in der Mitte des Bildes ist Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen zu sehen, 26. Oktober 2023.Bild: EPA

«Zivilisten müssen immer und überall geschützt werden», sagte EU-Ratspräsident Charles Michel mit Blick auf die Lage im Gazastreifen. Noch deutlicher wurde Belgiens Premierminister Alexander De Croo. Zwar verurteilte er den Hamas-Terror scharf, sagte dann aber an Israel gerichtet: «Das ist niemals eine Entschuldigung dafür, eine ganze Region zu blockieren. Es kann niemals eine Entschuldigung für die Blockierung humanitärer Hilfe sein. Es kann niemals eine Entschuldigung dafür sein, eine Bevölkerung auszuhungern.»

Streit um Forderungen nach Waffenstillstand

Um Forderungen nach einem sofortigen humanitären Waffenstillstand für den Gazastreifen hatte es zuvor heftigen Streit in der EU gegeben. Länder wie Deutschland, Österreich und Ungarn sprachen sich klar dagegen aus, dass sich die EU solchen Aufrufen öffentlich anschliesst. Sie argumentieren, ein solcher Vorstoss sei angesichts des anhaltenden Terrors der islamistischen Palästinenserorganisation Hamas unangemessen.

Länder wie Spanien oder Irland setzten sich hingegen wegen der vielen zivilen Opfer bei israelischen Angriffen auf Ziele im Gazastreifen für einen solchen Aufruf ein. Sie argumentieren, dass die von Israel ausgehende Abriegelung des Gazastreifens klar gegen Völkerrecht verstösst. Vor allem Deutschland wird hinter vorgehaltener Hand vorgeworfen, nur vor dem Hintergrund seiner Nazi-Vergangenheit keine Aufrufe an Israel richten zu wollen.

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Der deutsche Kanzler Olaf Scholz trifft am EU-Gipfel in Brüssel ein, 26. Oktober 2023.Bild: AP

Vorwurf der Doppelmoral

Als Gefahr wird von Ländern, die das Anliegen der Palästinenser stärker unterstützen, gesehen, dass sich die EU auf internationaler Ebene unglaubwürdig macht, wenn sie mögliche Völkerrechtsbrüche von Israel nicht adressiert. Dies gilt vor allem vor dem Hintergrund der Bemühungen der EU, Länder Lateinamerikas, Afrikas und Asiens zu einer stärkeren Zusammenarbeit gegen den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine zu bewegen.

Spitzenbeamte der EU vertreten hinter verschlossenen Türen sogar die Auffassung, dass Israel im Gazastreifen wahllos und ohne grössere Rücksicht auf Zivilisten zivile Infrastruktur bombardiert. Nach Angaben des von der Hamas kontrollierten Gesundheitsministeriums starben bisher 7028 Menschen, mehr als 18 000 seien verletzt worden. In Israel sind seit dem blutigen Überfall der Hamas am 7. Oktober bisher mehr als 1400 Tote und rund 4000 Verletzte zu beklagen.

Der Kompromiss in der Gipfel-Erklärung besteht nun darin, nicht zu einem weitgehenden Waffenstillstand aufzurufen, aber «humanitäre Korridore und Pausen für humanitäre Zwecke» zu fordern. Die Verwendung des Wortes «Pausen» im Plural soll demnach deutlich machen, dass die EU Israel nicht auffordert, den Kampf gegen die Hamas mit sofortiger Wirkung und dauerhaft einzustellen. Diesen Eindruck wollen Länder wie Deutschland und Ungarn unbedingt vermeiden.

Selbstverteidigungsrecht mit Grenzen

Israel dürfe alle notwendigen Massnahmen ergreifen, damit sich das, was passiert sei, nicht wiederhole, sagte Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban in Brüssel. Er zählt mit Deutschland, Österreich und Tschechien zu den kompromisslosesten Israel-Unterstützern in der EU.

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Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban vor den Medien in Brüssel, 26. Oktober 2023.Bild: AP

Dies wird allerdings von etlichen EU-Partnern anders gesehen und kann auch aus dem Text für die Abschlusserklärung herausgelesen werden. Dort wird zwar nachdrücklich das Recht Israels betont, sich zu verteidigen – allerdings mit der Einschränkung, dass dies «im Einklang mit dem Völkerrecht und dem humanitären Völkerrecht» geschieht. Demnach ist es der Einsatz von Zivilisten als menschliche Schutzschilde zwar eine «besonders beklagenswerte Grausamkeit», aber keine Entschuldigung, die Strom- und Wasserversorgung des Gazastreifens zu kappen.

Deutlich wird die zunehmende Kritik an der Gegenoffensive Israels auch mit der geplanten Zusage der EU, eng mit den Partnern in der Region zusammenarbeiten, um auch den Zugang zu Treibstoff zu erleichtern. Sie stellt sich damit klar gegen die israelische Regierung, die aus Angst vor Missbrauch bislang nicht zulassen will, dass der Gazastreifen weiter mit Treibstoff beliefert wird. In der geplanten EU-Erklärung heisst es dazu, die EU werde sicherstellen, dass diese Hilfe nicht von terroristischen Organisationen missbraucht werde.

Achtung des Völkerrechts: Scholz vertraut Israel

Sorgen bereiten europäischen Staats- und Regierungschefs vor allem die möglichen Folgen einer zu drastischen Reaktion Israels auf den Terror der Hamas. Die Art und Weise der Antwort sei wichtig für die zukünftige Sicherheit der ganzen Region – eingeschlossen der in der Europäischen Union, mahnte der irische Regierungschef Leo Varadkar.

Auch Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) warnte erneut vor einer Ausweitung des Konflikts, richtete sich aber dabei vor allem an die Nachbarn Israels: «Das sollte nicht passieren, dass im Norden etwa Hisbollah in den Krieg auch noch mit eigenen Aktivitäten eintritt oder der Iran und seine Proxies versuchen, hier gewissermassen zu intervenieren.»

Befürchtungen, dass Israel bei seinem Vorgehen gegen die Hamas das Völkerrecht aushebeln könnte, trat Scholz mit sehr klaren Worten entgegen. «Israel ist ein demokratischer Staat mit sehr humanitären Prinzipien, die ihn leiten», sagte er. «Und deshalb kann man sicher sein, dass die israelische Armee auch bei dem, was sie macht, die Regeln beachten wird, die sich aus dem Völkerrecht ergeben. Da habe ich keinen Zweifel.»

Selenskyj warnt vor Flächenbrand

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj warnte beim Gipfel vor den Gefahren eines Flächenbrands im Nahen Osten für Europa. «Die Feinde der Freiheit sind sehr daran interessiert, die freie Welt an eine zweite Front zu bringen», sagte er in einer Videoansprache. «Je eher im Nahen Osten Sicherheit herrscht, desto eher werden wir hier – in Europa – Sicherheit wiederherstellen.»

(hah/sda/dpa)

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58 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Urs der Bär
26.10.2023 20:03registriert Oktober 2022
Ich verurteile die Aktivitäten der Hamas aufs schärfste und ist inakzeptabel in aller Form!

Die Siedlungspolitik unter Netanjaho ist aber eine Katastrophe und Mitschuld für die Eskalation. Die ultraorthodoxen Juden die der Netanjaho in die Regierung holte um seine Macht zu erhalten ist alles andere wie förderlich gewesen für eine friedliche Lösung im Nahostkonflikt.
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Anfield_
26.10.2023 21:29registriert November 2021
Humanitäre Fluchtrouten in den Süden, klar definierte Zonen in welchen die Geflüchteten sicher sind. Durch das IKRK (nicht durch UNRWA) überwachte Abgabe von Hilfsgüter inklusive Treibstoff.

Sofortige Freilassung der Geiseln.

Fliegt auch nur eine Rakete aus diesen Zonen Richtung Israel wird die Abmachung hinfällig.

Greift Israel eine dieser Zonen an ist es vorbei mit der Unterstützung.

Idioten brauchen einfache und klare Regeln nur so kann es mit extrem viel Glück funktionieren.

(Und je schneller Bibi weg ist um so besser)
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dänkdra
26.10.2023 20:09registriert Juli 2018
Ich frage mich was der Infomationsgehalt der Bilder von der Layen und Scholz aussagen sollen bei einem Artikel über zunehmende Kritik an Israels Vorgehen im Gaze da sie bisher ja als bedingungslose Unterstützer aufgetreten sind entgehen der offiziellen EU Meinung.??
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