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EU-Staaten beschliessen umstrittenes Naturschutzgesetz

Autumn foliage surround two ponds in a forest of the Taunus region in Frankfurt, Germany, Tuesday, Oct. 31, 2023. (AP Photo/Michael Probst)
Wald in Frankfurt, Deutschland. Bild: keystone

EU-Staaten beschliessen umstrittenes Naturschutzgesetz

17.06.2024, 15:5517.06.2024, 15:55
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Die EU-Staaten haben den Weg für ein lange umstrittenes Naturschutzgesetz freigemacht. Demnach sollen künftig in der Europäischen Union unter anderem Wälder aufgeforstet sowie Moore und Flüsse in ihren natürlichen Zustand zurückversetzt werden.

Eine ausreichende Mehrheit von EU-Staaten stimmte dem vor allem von Landwirten und Konservativen kritisierten Vorhaben am Montag in Luxemburg zu, wie die derzeitige belgische EU-Ratspräsidentschaft mitteilte.

Über das Vorhaben wurde lange und intensiv gestritten. Die EU-Kommission hatte das sogenannte Renaturierungsgesetz vor fast genau zwei Jahren vorgeschlagen. Nach offiziellen Angaben sind rund 80 Prozent der Lebensräume in der Europäischen Union in einem schlechten Zustand. Zudem sind demnach 10 Prozent der Bienen- und Schmetterlingsarten vom Aussterben bedroht und 70 Prozent der Böden in schlechter Verfassung.

Das Gesetz ist Teil des sogenannten Green Deals, mit dem sich die EU das Ziel gesetzt hat, bis 2050 klimaneutral zu werden. «Die Verordnung zielt darauf ab, den Klimawandel und die Auswirkungen von Naturkatastrophen einzudämmen» teilten die EU-Staaten mit. Nach Angaben des Umweltbundesamtes in Deutschland können durch Renaturierung etwa Überschwemmungsflächen zurückgewonnen und Hochwasserrisiken verringert werden.

20 der 27 EU-Staaten - darunter Schwergewichte wie Deutschland und Frankreich - stimmten für die neuen Vorgaben, 6 sprachen sich dagegen aus und Belgien enthielt sich.

Gesetz in Verhandlungen wegen Kritik abgeschwächt

Während Umweltschützer, zahlreiche Wissenschaftler und Unternehmen wie Ikea, H&M und Nestlé das Gesetz befürworteten, gab es grossen Widerstand vor allem von Christdemokraten und Bauernverbänden. Die Kritiker befürchten zu grosse Einschnitte für Landwirte und damit Auswirkungen auf die Lebensmittelproduktion in der EU.

Jan-Christoph Oetjen, Vizepräsident des Europäischen Parlaments, sprach nach der Abstimmung von einem Schritt rückwärts. Forst- und Landwirtschaft würden neue Restriktionen auferlegt.

Um auf Bedenken einzugehen, war das Gesetz im Verhandlungsprozess deutlich abgeschwächt worden. So ist beispielsweise nicht mehr vorgesehen, dass Landwirte verpflichtet werden, einen bestimmten Prozentsatz ihrer Agrarflächen für Renaturierungsmassnahmen zur Verfügung zu stellen.

Alleingang einer grünen Ministerin

Eigentlich hatten sich die EU-Länder und das EU-Parlament schon im November auf einen Kompromiss verständigt. Auch das EU-Parlament hatte bereits zugestimmt. Weil eine Reihe von Ländern trotzdem weiter dagegen war, stand die notwendige Mehrheit unter den ebenfalls an der Gesetzgebung beteiligten EU-Staaten lange auf der Kippe.

Diese kam nun durch einen Kurswechsel Österreichs zustande. Die Klimaschutz- und Umweltministerin der Alpenrepublik, Leonore Gewessler (Grüne), stimmte dem Gesetz zu - stellte sich damit aber gegen ihren konservativen Koalitionspartner, die Kanzlerpartei ÖVP und löste so gleichzeitig eine Regierungskrise in Wien aus. Österreichs Kanzler Karl Nehammer ist der Meinung, dass Gewesslers Vorgehen rechtswidrig sei. Das Bundeskanzleramt in Wien kündigte nach Gewesslers unabgestimmtem Ja umgehend eine Nichtigkeitsklage beim Europäischen Gerichtshof an. Gewessler hatte hingegen vor ihrem Votum betont, dass ihr Schritt juristisch abgesichert sei.

Ob das Gesetz angesichts der unterschiedlichen Rechtsauffassungen doch noch aufgehalten wird, müssen am Ende Gerichte entscheiden. Der derzeitige belgische EU-Ratsvorsitzende Alain Maron sprach mit Blick auf Österreich von einer innenpolitischen Kontroverse, «die mich nichts angeht».

Belgien hat derzeit den regelmässig wechselnden Vorsitz unter den EU-Staaten inne. Nach Angaben eines EU-Diplomaten vertritt die Ratspräsidentschaft die Auffassung, dass die Abstimmung rechtlich bindend ist. Diese Ansicht sei auch vom juristischen Dienst des Rates bestätigt worden.

Mit der Zustimmung der EU-Staaten ist das Gesetz eigentlich beschlossen. Sollten sich keine juristischen Fallstricke mehr entwickeln, müsste der Rechtstext nur noch in die EU-Amtssprachen übersetzt und im Amtsblatt veröffentlicht werden, damit die Vorgaben in Kraft treten können. 2033 soll die EU-Kommission die Auswirkungen der Verordnung auf die Landwirtschaft, Fischerei und Forstwirtschaft überprüfen.

Schwere Regierungskrise in Österreich

Die konservative ÖVP kündigte in Wien eine Anzeige wegen Amtsmissbrauchs gegen Gewessler an. «Leonore Gewessler stellt sich über die Verfassung, weil sie es mit ihrer grünen Ideologie nicht vereinbaren kann, gesetzeskonform zu handeln», sagte ÖVP-Generalsekretär Christian Stocker. Seine Partei argumentiert, dass Gewessler an einen Einspruch der österreichischen Bundesländer gegen das EU-Gesetz gebunden sei. Gewessler ist überzeugt, dass dieses Veto nicht mehr gilt, seitdem Wien zuletzt den Länder-Konsens verlassen hat und das Gesetz unterstützt. Ob die Koalition zwischen ÖVP und Grünen rund drei Monate vor der Parlamentswahl an dem Streit zerbricht, war vorerst nicht klar. Der Kanzler wollte am frühen Abend ein Statement abgeben. Nehammers Konservative stehen stark unter Druck, nachdem sie in der EU-Wahl von der rechten, EU-kritischen FPÖ auf den zweiten Platz verwiesen wurden.

Umweltverbände sprechen von historischem Tag

Der Deutsche Naturschutzring als Dachverband von knapp 100 Organisationen sprach von einem historischen Tag und einem wichtigen Signal an die ganze Welt. Die Sicherung der Lebensgrundlagen und die Einhaltung von Verpflichtungen aus dem Biodiversitätsabkommen der Vereinten Nationen seien trotz einer starken rechtspopulistischen Kampagne nicht verhandelbar. Brennende und absterbende Wälder, Hochwasserereignisse, Wassernotstände und die Klimakrise zeigten, dass jetzt gehandelt werden müsse. Die Organisation Greenpeace forderte Deutschlands Regierung auf, den Beschluss schnell in der Gesetzgebung umzusetzen. (sda/dpa)

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36 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Meiner Einer
17.06.2024 16:37registriert November 2018
Damit geht die EU weiter voran und hängt die Schweiz weiter ab im Naturschutz. Die Schweiz war mal Musterknabe in Europa, aber diese Lorbeeren sind schon länger vertrocknet... Heute Schlusslicht beim Anteil der Schutzflächen, beim Zustand der Biodiversität usw. Vielleicht holen wir etwas auf, wenn die Biodiversitätsinitiative angenommen wird. Aber den schnellen Weg zur Umsetzung (der Gegenvorschlag-Kompromiss, der von der bürgerlichen Mehrheit unter Führung des Bauernverbands versenkt wurde) haben wir auch da schon verpasst.
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el cóndor terminado
17.06.2024 16:41registriert Juni 2021
Wenn die Bauernverbände dagegen sind sollte der Rest dafür sein.
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Demetria
17.06.2024 16:20registriert März 2020
Warum den Bauern nicht neue tolle Technologien als Ersatz für die Moore und Wälder anbieten?

Viele Bauern können doch entweder nicht investieren, weil sie das Geld nicht haben oder aber weil ihnen das technische Wissen fehlt.
Bietet doch denen für jede geräumte Naturfläche ein Gewächshaus mit Hydrophonics, Solarzellen und Fischbecken oder als Alternative ein Windrad dessen Strom verkauft oder genutzt werden darf, inklusive Schulung.
Bis jetzt hätte ich noch nie einen Bauern gesehen, den es nicht interessiert hätte, auf kleinerer Fläche mehr gutes Geld zu verdienen.

Anreize statt Strafe.
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