Macron bietet Europa den französischen Atomschutz an - doch er hat ein Problem
Hyperreaktiv wie immer, brauchte Emmanuel Macron weniger als 24 Stunden, um nach dem Eklat in Washington eine komplette Neuordnung der europäischen Verteidigung vorzuschlagen.
Die Europäer könnten «nicht länger von der amerikanischen Nuklearabschreckung abhängen», meint er in einem Zeitungsinterview. Deshalb sei in Europa ein «strategischer Dialog» über die Verteidigung des Kontinentes nötig. Frankreich habe als einziges EU-Land Nuklearwaffen – nämlich die atomare Force de Frappe aus 290 Sprengköpfen. Macron sagte, er wolle darüber eine «Diskussion eröffnen», um zu sehen, wie man Länder schützen könne, «die keine Atomwaffen haben».
Der Vorschlag ist nicht neu. Schon vor einem Jahr hatte Macron den EU-Partnern den französischen Atomschirm angeboten, da die «lebenswichtigen Interessen» Frankreichs heute eine «europäische Dimension» hätten, wie er sagte. Bisher hatte die Force de Frappe für Frankreich eine rein nationale Funktion. Um seine Unabhängigkeit gegenüber den USA zu betonen, beteiligte sich Paris deshalb auch nicht an der Nuklearen Planungsgruppe der Nato.
Die Wahl des amerikanischen Präsidenten Donald Trump und sein vertrauliches Gespräch mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin machen die Debatte um die Ausweitung des französischen Atomschirms auf Europa nun aber aktueller denn je.
290 Sprengköpfe genügen «völlig»
Nach der Bundestagswahl in Deutschland erklärte der wohl künftige Kanzler Friedrich Merz, Deutschland müsse sich «darauf einstellen, dass Donald Trump das Beistandsversprechen des Nato-Vertrages nicht mehr uneingeschränkt gelten» lasse. Die Europäer müssten «nuklear unabhängiger werden». Merz will mit den Atommächten Frankreich und Grossbritannien so rasch wie möglich über einen «gemeinsamen nuklearen Schirm für Europa» sprechen.
Das deckt sich mit der jüngsten Interview-Aussage Macrons, der amerikanische Schutzschirm über Europa breche «auf einen Schlag» zusammen, wenn die USA der Ukraine keine Sicherheitsgarantien gäben. Dann sei es nicht ausgeschlossen, dass Putin auch Moldawien und danach Rumänien angreife.
Zu den 290 see- und luftgestützten Atomköpfen Frankreichs kommen 220 seegestützte Atomraketen der Briten. Das ist nur ein Bruchteil der gut 5000 amerikanischen und knapp 6000 russischen Atomwaffen. Der französische Verteidigungsminister Sébastien Lecornu hält die Defensivwirkung der Force de Frappe allerdings für «völlig ausreichend». Ziel sei schliesslich nicht der Einsatz, sondern die Abschreckung.
Die französische Atomschlagkraft ist einsatzbereit. Französische und britische Atom-U-Boote patrouillieren regelmässig, seit Beginn des Ukraine-Krieges sogar in verdoppelter Kadenz. An einem Force-de-Frappe-Manöver namens Poker nahm 2022 auch die italienische Luftwaffe teil. «Dasselbe wäre auf gesamteuropäischer Ebene taktisch abgestuft möglich, ohne dass die heiklen Prozeduren geteilt werden müssten», erklärte der Pariser Ballistikexperte Etienne Marcuz. Die Bundeswehr könnte Hilfspersonal und Infrastruktur beisteuern, wie sie es beim Einsatz von US-Atomwaffen vorhat.
Heikel bleibt die Frage auf politischer Ebene. Auch wenn Macron eine europäische «Teilhabe» befürwortet, schliesst er bei der Force de Frappe jede europäische Mitentscheidung aus: Auf den roten Knopf – in Wahrheit ein komplexer Datencode – könnte nach französischer Sicht nur der Präsident im Élysée-Palast drücken. «Das ist französisch und bleibt französisch», machte Industrieminister Marc Ferracci am Sonntag klar.
Diese Bestimmtheit ist zum Teil auch innenpolitisch motiviert: Die Rechtspopulistin Marine Le Pen hat am Samstag erneut bekräftigt, es komme für sie nicht infrage, die französischen Atomwaffen zu «teilen». Die EU-Gegnerin hat bei den Präsidentschaftswahlen 2027 Chancen, in den Élysée-Palast einzuziehen – und die Kontrolle über den «atomaren Knopf» zu erhalten.
Skeptiker bezweifeln, ob der französische Nuklearschirm alles in allem zuverlässiger wäre als der amerikanische. Und ob ihn Paris im Ernstfall wirklich aktivieren würde.
Dass Frankreich seine Force de Frappe regelmässig in die Diskussion einbringt, hat zwei zusätzliche Gründe. Zum einen kann sich Paris damit gegen den Vorwurf wehren, es leiste der Ukraine wenig Finanzhilfe. Und so wie diverse Standortländer amerikanischer Atomwaffen – etwa Polen, Italien oder Deutschland – im Gegenzug amerikanische F-35-Kampfjets gekauft oder bestellt haben, so würde Frankreich dank der Force de Frappe auf den erhöhten Absatz seiner Rafale-Jäger zählen. Sicherheit gibt es eben auch in der neuen Weltordnung nicht umsonst. (bzbasel.ch)
