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Frankreich

5 Jahre nach dem Anschlag auf Charlie Hebdo: Sehnsucht nach Normalität

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Staatschefs aus aller Welt bekunden ihr Beileid nach dem Anschlag auf Charlie Hebdo, 11. Januar 2015.Bild: EPA

Er überlebte den Anschlag auf Charlie Hebdo – nun erzählt der Chefredaktor vom Terror

Vor fünf Jahren stürmten Terroristen die Redaktion des Pariser Satiremagazins. Jetzt äussert sich der Überlebende und heutige Chefredaktor Laurent Sourisseau zum Anschlag.
07.01.2020, 12:19
Stefan Brändle aus Paris / ch media
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Wenn Blicke wirklich töten könnten, wäre Laurent Sourisseau, alias Riss, wohl nicht mehr am Leben. «Wir schauten uns in die Augen», beschreibt er die Szene, als die Gebrüder Kouachi am 7. Januar 2015 mit ihren Kalaschnikows in die Redaktionssitzung platzten. «Eine Sekunde lang, vielleicht zwei.» Der schwarz gekleidete Attentäter schien überrascht, in dem kleinen Raum so viele Leute vor­zufinden. «Sein Staunen wurde aber gleich von seiner Aufgabe weggewischt: Er sollte töten.»

Riss tauchte reflexartig ab, «wie ein Kind, das sich fallen lässt». Unter dem Bürotisch vergrub er den Kopf in den Armen. Ein Schuss traf ihn in die Schulter. Aber Riss überlebte – anders als zwölf Freunde, darunter fünf Karikaturisten, ein Polizist, eine Chronistin, ein Korrektor: Sie starben in der Attacke von «einer Minute und 49 Sekunden», wie der Titel von Riss’ Werk lautet.

epa08094638 (FILE) - A woman holds a pencil, a candle and a sign in French reading 'I am Charlie' as people pay their respect for the victims of a shooting at the Paris-based French satirica ...
«Je suis Charlie» war der Slogan einer grossen Solidaritätsbewegung mit dem Satiremagazin.Bild: EPA

«Zwei lebendig Begrabene»

Heute setzt sich der Zeichner mit übereinandergelegten Händen an den Tisch, verbergend, dass er den rechten Arm nicht mehr heben kann. Noch am Nachmittag, als er aus dem Albtraum aufwachte, war er überzeugt, dass ihn die Terroristen wegen seiner Mohammed-Karikaturen im ­Spital aufspüren würden, um ihr Werk zu vollenden. Der Frühling danach war kein Fest. Gestützt von einer Massendemo und dem Solidaritätsslogan «Je suis Charlie» machte das Magazin weiter. An der wöchentlichen, von der Polizei schwer bewachten Redaktionssitzung waren sie aber gelegentlich nur noch zu zweit. «Zwei lebend Begrabene.»

Aber eben: lebend. «Man versucht, sich nicht überwältigen zu lassen, kein Gefangener dieses Ereignisses zu sein», sagt der damalige Zeichner und heutige Chefredaktor von «Charlie». Das Gleiche gilt für das Blatt mit einer aktuellen Auflage von 55000 (20000 mehr als vor dem Attentat): So wie Riss gerne wieder einmal ohne Polizeibegleiter ausgehen würde, wäre das Satiremagazin gerne wieder ein ganz normales Satiremagazin. Natürlich schön ­provokativ, ja unflätig: Mit der grauslichen Zeichnung des ertrunkenen Migrantenbuben Aylan trat Riss noch im Jahr des Attentates eine neue Polemik los.

Mohammed lässt er aber links liegen. Nicht aus Feigheit: Der 53-Jährige macht keine Konzessionen; aber er will loskommen vom Opferstatus und vom Image eines Anti-Islamisten-Magazins. Lieber verteidigt er einen bekannten TV-Mann, der wegen eines sexistischen Witzes entlassen worden war. «Bürger werden wie kleine Kinder bestraft, nur weil sie Schimpfwörter brauchen», ärgert sich Riss.

Attentat auf die Redaktion der Satirezeitschrift «Charlie Hebdo»

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07.01.2015: Attentat auf die Redaktion der Satirezeitschrift «Charlie Hebdo»
Sieben weitere Personen sind verletzt. Vier von ihnen schweben in Lebensgefahr.
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Kampf gegen Naivität

Ohne verbale Zurückhaltung poltert er gegen jene Linken, die ihm Islamfeindlichkeit unterstellen, wenn nicht Rassismus und Nähe zu Rechtsextremisten. «Kollabos» schimpft er sie – Komplizen von Terroristen. Riss scheut sich nicht, den einflussreichen Chefredaktor des linken Online-Magazins Mediapart, Edwy Plenel, anzugreifen, weil dieser den umstrittenen Prediger Tarik Ramadan in Schutz genommen habe.

Er selber, der Überlebende, kennt keine Nachsicht mit ­Islamisten. Riss zeichnet Mohammed-Karikaturen nur noch «wenn nötig»; umso mehr drischt er auf die angeblich ­naiven Vertreter einer wohlmeinenden Laizität ein – all jene, die die Augen verschliessen vor den Vorgängen in den Banlieus. Also jener Viertel, wo nach dem 7. Januar 2015 niemand «je suis Charlie» skandiert hatte.

Bald beginnt der Prozess gegen Komplizen

Gegen diesen Riss durch die Gesellschaft weiss Sourrisseau auch nicht weiter. Aber er sieht, dass sich Messerattacken geistig gestörter Solo-Dschihadisten häufen – am Freitag in Villejuif, am Sonntag in Metz. Steigt vor dem fünften Jahrestag die Gewalt des Charlie-Massakers aus den Untergründen der französischen Gesellschaft hoch? Dieses Massaker hatte zwar weniger Opfer gefordert als die Anschläge auf den Pariser Konzertsaal Bataclan von November 2015 (130 Tote) oder die Strandpromenade in Nizza (86 Tote). Aber der Fall Charlie war symbolischer. «Die Leute wurden sich bewusst, dass ihre Gesellschaft bedroht ist», sagt Riss. Soldaten mit vorgehängtem Gewehr gehören seither zum französischen Alltag.

Im Mai beginnt in Paris ein zweimonatiger Prozess gegen die Attentäter der «Charlie»-Redaktion und eines zwei Tage später attackierten jüdischen Supermarktes. Vierzehn Komplizen sitzen auf der Anklagebank, doch die Hauptfiguren sind ­abwesend, weil nicht mehr am Leben. Riss schweigt sich über seine Teilnahme an den Verhandlungen aus, wohl aus Sicherheitsgründen. Der «Charlie»-Chef sagt nur, er wäre schon froh, wenn er wieder einmal die Pariser Metro benützen könnte. (aargauerzeitung.ch)

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08.01.2015: So berichteten die Zeitungen über die Attacke auf «Charlie Hebdo»
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08.01.2015: So berichteten die Zeitungen über die Attacke auf «Charlie Hebdo»
So berichteten die Zeitungen weltweit über den Anschlag auf «Charlie Hebdo».
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4 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Name_nicht_relevant
07.01.2020 12:48registriert Mai 2019
Moslems die sowas lesen sind geschockt, ich bin aufgewachsen mit diesem Glauben jedoch wurde niemals befürwortet Menschen zu töten nur weil Sie an etwas anderes Glauben. Jedes Lebewesen ist Wertvoll ob für Mich oder für jemandem, es ist wichtig Wertzuschetzen das jedes Lebewesen seinen Grund hat auf der Erde zu sein. Ob es ein Mensch ist der einen Baum pflanzt oder der Baum der die Luft reinigt und und Tiere und Menschen mit ihren Früchten ernährt oder um einfach Schatten zu spenden, es ist ein Lebewesen das es braucht. Wir brauchen Menschen, Tiere und Natur ohne Sie gibts kein Leben.
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