Ein neues Parlament. Die Wahl erfolgt in 28 Bundesstaaten und 8 sogenannten «Unionsterritorien», die der Zentralregierung in der Hauptstadt Neu-Delhi unterstehen.
Wahlberechtigt sind Inderinnen und Inder ab 18 Jahren. Sie wählen 543 Abgeordnete ins Unterhaus, das den Namen «Lok Sabha» – auf Deutsch «das Haus des Volkes» – trägt. Hinzu kommen zwei Vertreter der anglo-indischen Minderheit, die der indische Premierminister ernennt. Insgesamt sitzen im Unterhaus also 545 Politikerinnen und Politiker.
Angewandt wird das Mehrheitswahlrecht. Wer in einem Wahlkreis die meisten Stimmen auf sich vereint, zieht für fünf Jahre ins Parlament ein.
Das Oberhaus, die «Rajya Sabha», ist die Kammer der Bundesstaaten, darauf liegt der Fokus in diesem Artikel jedoch nicht.
Die unglaubliche Dimension. Noch nie gab es eine demokratische Wahl dieser Grössenordnung. Es ist die Rede von der grössten logistischen Übung in Friedenszeiten.
969 Millionen Inderinnen und Inder sind wahlberechtigt – 150 Millionen Menschen mehr als bei der letzten Wahl 2019. Rund 470 Millionen davon sind Frauen. Zum Vergleich: Die Anzahl an wahlberechtigten Personen in Indien übersteigt die Gesamtbevölkerung aller EU-Staaten um mehr als das Doppelte.
Indien verfügt über eine riesige Parteienlandschaft. Für die aktuelle Wahl haben sich 2660 Parteien registriert. Viele Parteien treten allerdings nur in einem Bundesstaat oder sogar nur in einem einzigen Wahlkreis an. 2019 betrug die Stimmbeteiligung 67 Prozent, ein Rekord.
Die Stimmabgabe findet in sieben Phasen statt und dauert vom 19. April bis zum 1. Juni 2024 – ein Zeitraum von 44 Tagen. Am 4. Juni soll das Resultat bekannt gegeben werden.
Die Inderinnen und Inder wählen elektronisch. Um die Wahl effizient über die Bühne zu bringen, stehen in über einer Million Wahllokalen insgesamt 5,5 Millionen elektronische Wahlmaschinen zur Verfügung. 15 Millionen Wahlhelfer sind im Einsatz.
Seine Stimme gibt man ab, indem man die Taste derjenigen Partei drückt, die man unterstützt. Die Tasten sind mit den Parteinamen angeschrieben, zeigen aber auch die Symbole der jeweiligen Parteien an. Und dies aus gutem Grund.
Rund ein Viertel der indischen Bevölkerung ist analphabetisch. Angesichts dessen wurden die elektronischen Wahlmaschinen eingeführt. So sollen alle Wahlberechtigten ihre Stimme abgeben können.
Damit auch wirklich jede wahlberechtigte Person erreicht werden kann, darf kein Wahlzentrum weiter als zwei Kilometer vom Wohnort jedes Wählenden entfernt liegen. Die Wahlhelfer reisen per Zug, Hubschrauber, mit Pferden und Booten in die entlegendsten Gebiete.
Eine Wahlmaschine müssen die Wahlhelfer auf 4100 Meter in die Himalaya-Region transportieren, dort leben 35 Wahlberechtigte.
Der indische Premierminister wird nicht direkt vom Volk gewählt. Er wird vom Parlament ernannt. Die Partei oder Parteikoalition, welche die absolute Mehrheit der Sitze im Unterhaus auf sich vereint, stellt den Premierminister und bildet eine Regierung.
Seit 2014 ist Premierminister Narendra Modi von der regierenden, Hindu-nationalistischen Bharatiya-Janata-Partei (BJP) an der Macht. 2019 konnte seine Partei mit 303 Sitzen – das absolute Mehr beträgt 272 Sitze – einen deutlichen Sieg verbuchen. Seine rechts-nationalistische Koalition trägt den Namen «Nationale Demokratische Allianz» (NDA) und belegte insgesamt 353 Sitze.
Nach Jahrzehnten des Regierens hat die Kongresspartei viel von ihrer früheren Stärke eingebüsst. Bei der Wahl vor fünf Jahren kam sie noch auf 52 Sitze, gemeinsam mit dem Bündnis waren es 91.
Premierminister Narendra Modi (73) und seine BJP gelten als klarer Favorit. Der Amtsinhaber tritt zum dritten Mal gegen Rahul Gandhi (53) von der Kongresspartei an. 2014 und 2019 hat er seinen Kontrahenten bereits bezwingen können, weil sein Bündnis die Wahlen gewann. Gandhi, seit 2019 zwar nicht mehr Parteipräsident, aber immer noch die bekannteste Figur seiner Partei, ist seit zehn Jahren in der Opposition.
Bei der aktuellen Wahl droht Gandhi eine weitere Niederlage. Gemäss Prognosen könnte seine politisch links positionierte Kongresspartei auf lediglich 38 Sitze kommen. Gemeinsam mit seinem Bündnis – die im vergangenen Sommer gegründete «Indian National Developmental Inclusive Alliance» (India) – würde er 94 Sitze erreichen. Den Kandidaten für das Amt des Premierministers will die India-Koalition erst nach der Wahl bestimmen.
Ganz anders sieht die Stimmungslage bei Premierminister Modi aus. Der 73-Jährige strebt seine dritte Amtszeit an und beabsichtigt seine Macht weiter auszubauen. Für seine Partei hat er das Ziel von 370 Sitzen ausgerufen, mit der Gesamtkoalition, der NDA, will er mehr als 400 Sitze erreichen. Eine im Februar publizierte Umfrage zeigte für Modi Zustimmungswerte von 75 Prozent.
Die Wirtschaft Indiens ist auf dem Vormarsch. Seit Narendra Modi 2014 das Ruder übernommen hat, gehört das riesige Land zu den weltweit führenden Wirtschaftsnationen. Mit einem Bruttoinlandprodukt von über drei Billionen US-Dollar liegt Indien hinter den USA, China, Japan und Deutschland auf Rang fünf. Noch vor der ehemaligen Kolonialmacht Grossbritannien.
Das Wahlprogramm von Modis BJP positioniert sich gegen die Eliten im Land, verspricht, die Wirtschaft weiterhin zu fördern. Es wirbt mit Wohlfahrtsprogrammen für die Armen, damit, zu investieren und Arbeitsplätze zu schaffen. Im Jahr 2023 betrug die Arbeitslosenquote jedoch 5,4 Prozent und lag damit höher als bei Modis Amtsantritt. Fast jeder sechste Jugendliche in den Städten hat keinen Job.
Modis Politik hat auch dazu geführt, dass die Schere zwischen Arm und Reich immer grösser wird. Gemäss Tages-Anzeiger besitzt 1 Prozent der Inder 40 Prozent des Wohlstands.
Unter Modis politischen Expansionsbestrebungen leidet zudem die Demokratie. Immer wieder kommt es zu repressiven Vorgängen. So wurde die Kongresspartei durch eine Steueruntersuchung und durch das Sperren von Parteikonten gehindert, Wahlkampf zu betreiben. Ausserdem wurde ein bekannter Oppositionspolitiker im März wegen des Vorwurfs der Korruption verhaftet.
Die erodierende Demokratie lässt sich auch messen. Gemäss dem Forschungsinstitut V-Dem war in Indien in den vergangenen zehn Jahren ein klarer Rückgang an demokratischen Normen und Werten zu beobachten. Zulasten von Minderheiten und der Meinungs- und Medienfreiheit. Interviews gibt Modi fast keine, kritischen Fragen geht er aus dem Weg.
«Modi will die indische Verfassung überarbeiten», sagt Wissenschaftler Christophe Jaffrelot in einer Dokumentation von Arte:
Von einer «besorgniserregenden Entwicklung» schreibt «Die Presse». Modi verwandle «den einst säkularen Vielvölkerstaat in einen autoritären, religiösen Hindu-Staat».
Bislang scheint die Strategie Modis allerdings aufzugehen. In der Bevölkerung kommt sein Hindu-nationalistisches Gedankengut gut an, wie die Prognosen zeigen. Die Opposition isst derzeit hartes Brot. Alles andere als ein klarer Wahlsieg Modis wäre gemäss Experten eine Überraschung.
Immer wieder kam es in den vergangenen Jahren nicht nur zu Austritten von prominenten Mitgliedern der Kongresspartei, sie wechselten teilweise sogar das Lager und schlossen sich Modis BJP oder seinem NDA-Bündnis an.
Ein möglicher Grund für diese Abwanderung ist die Unzufriedenheit mit der Parteispitze. Die Kongresspartei ist in den Händen der Familie Gandhi. Die Führung besteht nebst Rahul aus seiner Mutter Sonia Gandhi und seiner Schwester Priyanka Gandhi.
Rahuls Grossmutter war die indische Premierministerin Indira Gandhi, sein Urgrossvater Jawaharlal Nehru der erste Premierminister Indiens. Auch sein Vater Rajiv Gandhi war einst Premierminister. Mit dem indischen Unabhängigkeitskämpfer Mahatma Gandhi ist die Familie nicht verwandt.
Premierminister Modi macht sich diese Ausgangslage zunutze und stellt Rahul Gandhi als Teil einer Dynastie dar, der sich innerhalb der Partei nicht hocharbeiten musste. Modi, der von sich selbst sagt, aus ärmlichen Verhältnissen zu stammen, kann mit seiner Aufsteiger-Lebensgeschichte bei der Wählerschaft punkten.
Generell macht das INDIA-Bündnis der Opposition gemäss einem Bericht der Konrad-Adenauer-Stiftung einen unorganisierten Eindruck. Es fehlt eine klare Strategie, ein konstruktiver Austausch. Der einzige gemeinsame Nenner: das Ziel, die BJP zu besiegen.
Ganz anders die Lage bei Modi: Der Amtsinhaber ist der klare Führer der NDA-Koalition. Es existieren ein Manifest und innerhalb des Bündnisses eine Einigung bezüglich der Sitzverteilung im Parlament.
Hinzu kommt das Problem der ideologischen Positionierung. Widersetzt sich Rahul Gandhi mit seiner Kongresspartei Modis Hindu-Nationalismus, ist er den Vorwürfen ausgesetzt, ein Anti-Hindu zu sein. Was bei den rund 80 Prozent Hindus im Land nicht gut ankommt. Spricht er sich hingegen nicht gegen die von Modi unterstützte Ideologie aus, nimmt seine Glaubwürdigkeit schaden.
Die Ausgangslage im bevölkerungsreichsten Land der Welt ist für die Opposition alles andere als einfach. Wie Indien gewählt hat, wird sich in rund sechs Wochen zeigen.