Noch gleichen sie einem Paradies: Die Nikobaren, bestehend aus 22 Inseln, die sich im Golf von Bengalen befinden und seit 1950 zu Indien gehören. Insgesamt erstrecken sie sich über eine Fläche von 1841 km² und beheimaten rund 37'000 Einwohner (Stand 2011) – davon 65 Prozent Einheimische, 35 Prozent Zugewanderte.
Unser Augenmerk liegt im Folgenden auf der Insel Gross Nikobar: Sie stellt mit einer Fläche von 1045,1 km² die grösste aller Inseln dar. Sie beheimatet nebst einer Population von 8500 Menschen eine Vielfalt verschiedenster Tier- und Pflanzenarten – viele davon nur auf dieser noch grösstenteils unberührten Insel vorzufinden.
Genau dort will Indien ein Mega-Infrastruktur-Projekt aus dem Boden stampfen. Dies, obwohl 85 Prozent der Insel 1989 zum Biosphärenreservat erklärt und 2013 in das UNESCO-Programm «Der Mensch und die Biosphäre» aufgenommen wurde. Für das «Great Nicobar Project» nimmt Indien diverse Überschneidungen mit dem Reservat in Kauf und ignoriert damit das definierte Ziel eines Biosphärenreservats:
🚨 The government has received 11 expressions of interest (EOIs) for the $5 billion international transhipment port project at Great Nicobar Island in Bay of Bengal. pic.twitter.com/vpX2RCBVua
— Indian Tech & Infra (@IndianTechGuide) January 4, 2024
Das umgerechnet acht Milliarden Franken teure Projekt beinhaltet vier grosse Komponenten: einen internationalen Hafen, einen internationalen Flughafen für militärische und zivile Zwecke, eine Stadt und ein Gas- und Solarkraftwerk. Die Stadt wird sich aus Gewerbe-, Industrie- und Wohngebieten zusammensetzen, wobei ein grosser Teil für Tourismusprojekte vorgesehen ist. Auf der 8000-Seelen-Insel sollen einst 650'000 Menschen leben.
5/9 - The project will be implemented on a long island strip predominantly covered by forests. About 122 square kilometres of the 166 square kilometre project area is made up of forests, and nearly nine square kilometres, are deemed forests. pic.twitter.com/NQZEyDzrva
— Mongabay India (@MongabayIndia) November 10, 2022
Der Hafen mit einer Kapazität von jährlich 16 Millionen Containern soll in der Galatheabucht im Süden der Insel gebaut werden – einem der wichtigsten Nistplätze der gefährdeten Lederschildkröte im nördlichen Indischen Ozean.
Trotz des grossen Aufschreis bei Umweltschützern genehmigte das indische Umweltministerium das Projekt im September 2022. Einen Monat darauf bewilligte es das Fällen von 850'000 Bäumen auf einer Fläche von 130 km².
Als Kompensation sollen im Bundesstaat Haryana – auf dem Festland in der Nähe Neu-Delhis – doppelt so viele Bäume gepflanzt werden. Eine Massnahme, die dem einzigartigen Ökosystem auf Gross Nikobar herzlich wenig bringen wird, wie Umweltschützer bemängeln.
Doch nicht nur die Natur, auch zwei indigene Gruppen – die Shompen und die Nikobaresen – werden durch das Projekt in Mitleidenschaft gezogen. Insbesondere die Shompen, die kaum Kontakt mit der Aussenwelt pflegen, werden durch das Projekt bedroht.
Bei den Shompen handelt es sich laut indischen Ethnologen um eine der meistisolierten Gruppen der Welt – es ist daher nur wenig über sie bekannt. Sie leben im Inneren der Insel, und die Mehrheit von ihnen ist noch nie zuvor kontaktiert worden.
Die meisten Informationen über die Shompen stammen von Erzählungen benachbarter Inselbewohner, alten Reiseberichten und vereinzelten Forschungen. 2015 haben Ethnologen des Anthropological Survey of India (ANSI) eine 40-tägige Feldforschung auf Gross Nikobar durchgeführt, wie The Hindu berichtet. Dabei fanden sie heraus, dass die Shompen nicht wie bis anhin gedacht eine einheitliche Gruppe bilden. Stattdessen setzen sie sich aus Untergruppen zusammen, die sich teils feindlich gegenüberstehen – und sogar eigene Dialekte haben. Dies, obwohl die Forschenden nur 78 Mitgliedern der Shompen begegnet waren und die gesamte Population auf zwischen 200 und 300 schätzten.
Auch wenn die Insel klein ist, weist sie eine extrem hohe Artenvielfalt auf, was sich die Shompen zunutze machen. Sie leben semi-nomadisch und ziehen alle paar Wochen in ein anderes Gebiet. Als Jäger und Sammler ernähren sie sich von der üppigen Pflanzen- und Tierwelt, wobei die Pandanusfrucht – eine Art holzige Ananas – eines ihrer Hauptnahrungsmittel darstellt. Mit der ganzjährigen Jagd auf wilde Schweine, Affen, Echsen und sogar Schlangen bringen sie Proteine auf den Speiseplan.
Einzigartig ist laut Forschenden das Verhältnis der Frauen und Männer bei den Shompen: Es gibt viel weniger Frauen als Männer, was darin resultiert, dass viele erwachsene Männer keine Partnerin haben.
Dies wiederum führt dazu, dass sich die Gruppen gegenseitig die Frauen stehlen. Die Forschenden schreiben:
Ethnologen sind sich trotz diverser neuer Erkenntnisse einig, dass ihr Wissen über die Shompen noch immer lückenhaft ist. Gleichzeitig wissen sie, wie risikoreich eine Kontaktaufnahme mit isolierten Gruppen wie den Shompen sein kann.
Indien versuchte bereits 1969, Menschen auf Gross Nikobar umzusiedeln. Ziel war es, 2000 Ex-Armeeangehörige mit Familien auf die kleine Insel umzusiedeln. Nach grossflächigen Rodungen entstanden bis 1980 sechs Dörfer rund um Campbell Bay, in denen sich etwa 330 Familien niederliessen. Die Shompen wurden sowohl durch den Bau der Dörfer als auch durch weitere Infrastruktur vertrieben. Nur wenige Shompen-Gruppen hatten regelmässigen Kontakt mit Siedlern, und diejenigen, die dies taten, wurden fast komplett von Krankheiten dahingerafft, wie der indische Ethnologe Rann Singh Mann in seinem Buch 2005 schrieb. Insbesondere eine Epidemie zwischen 1985 und 1987 hätte die Shompen hart getroffen.
Die Shompen seien sich bewusst gewesen, dass Aussenstehende Krankheiten anschleppen, so Mann. Aus diesem Grund errichteten sie Aussenhütten, die sich vor ihrem Hauptlager befanden. Wer Kontakt mit Aussenstehenden hatte, musste zunächst einige Tage in diesen Hütten verbringen. Analog dazu durften Aussenstehende das Hauptlager auf keinen Fall betreten. Mann und sein Team erfuhren das auf die harte Tour:
Viele Shompen-Gruppen vermeiden den Kontakt mit Aussenstehenden komplett. Dies dürfte sie vor dem Schicksal benachbarter Inseln bewahrt haben, auf denen bereits diverse Ethnien nach dem Kontakt mit Siedlern ausgestorben sind.
Mit den Nikobaresen betreiben die Shompen hin und wieder Handel, auch wenn sie nicht dieselbe Sprache sprechen.
Die Population der Nikobaresen ist mit fast 30'000 Menschen (Stand 2011) – verteilt über die Nikobaren – um einiges grösser als diejenige der Shompen. Sie leben in grossen, permanenten Dörfern nahe der Küste, wo sie Gärten bewirtschaften und Schweine halten.
Der gewaltige Tsunami im Indischen Ozean 2004 hatte für sie verheerende Auswirkungen. Gemäss Schätzungen ist ein Drittel der Nikobaresen in der Katastrophe umgekommen. Die Überlebenden wurden von der Regierung in ein Notlager nach Campbell Bay umgesiedelt. Sechs Jahre lang wurden sie gegen ihren Willen in diesen Not-Unterkünften festgehalten, bis ihnen 2011 dauerhafte Unterkünfte zugewiesen wurden – noch immer in Campbell Bay, was sie zu Binnenvertriebenen macht (Internally displaced People, kurz IPD). In den vergangenen 17 Jahren hätten sie die Regierung immer wieder dazu aufgefordert, sie mit ihrer angestammten Heimat zu vereinen, schreibt ein Reporter der indischen Zeitung The Frontline, der sie vor Ort besucht hatte. Als sie schliesslich erfuhren, dass ein riesiges Infrastruktur-Projekt auf ihrem Land umgesetzt werden soll, war der Schock gross.
Sie hatten im Vorfeld zwar ihre Zustimmung für die Umsetzung für das Projekt gegeben, seien aber nicht korrekt darüber informiert worden. Ein Mitglied aus dem indigenen Rat erzählte gegenüber Frontline:
Als die Nikobaresen erfuhren, dass das Projekt unter anderem auf ihrem ursprünglichen Land gebaut werden soll, zogen sie ihre Zustimmung im November 2022 zurück – bis heute ohne Auswirkung.
Theoretisch könnten die Nikobaresen auf eigene Faust in ihre ursprünglichen Länder zurückkehren. Doch der erzwungene Kontakt mit Aussenstehenden und die Trennung von ihren ursprünglichen Dörfern hat ihre Gesellschaft über die Jahre hinweg zerrüttet.
In einer Petition an die Regierung 2022 brachten sie die Probleme auf den Punkt:
Das Ausleben ihrer Bräuche und ihrer Feste sei unmöglich, heisst es in der Petition weiter. Stattdessen müssten sie sich den Siedlern anpassen:
Ihre Kinder wüchsen kulturell und sozial anders auf und seien nicht mehr in der Lage, ihre traditionellen Gewohnheiten zu verstehen. Auch Krankheiten lasten schwer auf ihnen:
Die Nikobaresen wollen sich von der indischen Bevormundung ablösen, sind aber gleichzeitig davon abhängig geworden.
Das Great Nicobar Project würde die ursprüngliche Heimat der Nikobaresen zerstören und den Lebensraum der isolierten Shompen massiv bedrohen. Akademiker aus 13 Ländern flehen Indien an, das Projekt zu verwerfen.
39 Personen mit Hintergrund in Völkermord-Studien unterzeichneten den offenen Brief an Präsident Droupadi Murmu, der am Mittwoch publiziert wurde:
Sie sind nicht die ersten, die Alarm schlagen: Bereits letztes Jahr schrieb die Concerned Citizen Group (CCG), eine Gruppe aus 70 ehemaligen indischen Regierungsbeamten, einen offenen Brief an den Präsidenten. Das Projekt werde die einzigartige Ökologie der Insel zerstören, warnten sie. Am meisten kritisierten sie aber die Vorgehensweise der Regierung, welche den Schutz der zwei indigenen Gruppen komplett vernachlässigt habe. Allen voran das Ministerium für Stammesangelegenheiten (Ministry of Tribal Affairs) – diejenige Behörde, die die Rechte der Stammesgemeinschaften eigentlich schützen und sicherstellen soll. Die Concerned Citizen Group schreibt:
Die Regierung will nichts davon hören. Sie rechtfertigt ihr Projekt als einen nötigen Schritt für mehr Sicherheit und Verteidigung – insbesondere wegen Chinas wachsender Präsenz in der Region. Seit dem Projektvorschlag 2021 durch NITI Aayog – der obersten politischen Denkfabrik der indischen Regierung – wurde das Great Nicobar Project durch die nötigen Ministerien durchgewinkt. Arjun Munda, Minister für Stammesangelegenheiten, betont dennoch:
So sollen im Rahmen des Projektes drei unabhängige Überwachungsausschüsse für das Umweltmanagement eingerichtet werden. Dass dies die Natur und die Menschen vor den Auswirkungen des Mega-Projektes schützen könne, zweifeln Experten an.
Die Regierung dürfte das Projekt in den nächsten Monaten annehmen und damit die erste Bauphase des Projekts – den Bau des internationalen Hafens – einläuten. Die Nikobaresen würden damit für immer von ihrem ursprünglichen Land getrennt werden.
Wenn überhaupt..
Was soll man dazu noch sagen😔
Zum leid von Natur, Tieren, Pflanzen, unberührtes ökosystem und indigen Völker?
Wiedermal ist Gewinn erwirtschaften wichtiger, als das kostbarste zu schützen, was wir (noch) haben....wie lange noch?
Teilweise, weil Schlichtweg das Interesse fehlt, aber vielfach weil dort das Recht des stärkeren gilt und damit die Sprache der Gewehre .... Bruno Manser hat dies erfahren müssen!! Offizell gilt er immer noch als vermisst und die Tatsache, dass auf ihn ein Kopfgeld ausgesetzt war, hat keine offizielle Untersuchung belegen können ...